Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

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Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate

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ausgefranste Wahrheit der Verzweiflung handelt. Sie hält einen Spiegel hoch, in dem wir alle, als einzelne Menschen und insgesamt als Gesellschaft, uns selbst erkennen können. Die Angst, der Schmerz und die Sehnsucht, die wir sehen, sind unsere eigene Angst, unser eigener Schmerz und unsere eigene Sehnsucht. Auch uns gelten die Schönheit und das Mitgefühl, das wir hier erleben, ebenso wie der Mut und die große Entschlossenheit, das Leiden zu überwinden.

      KAPITEL 2

      Die tödliche Macht der Drogen

      Nichts offenbart die Auswirkungen eines traurigen Lebens so anschaulich wie der menschliche Körper.

      NAGIB MACHFUS

       Palast der Sehnsucht

      In einer Friedhofskapelle in East Hastings verkündet ein älterer Priester hinter seinem Rednerpult den Abschied der Welt von Sharon. „Wie ausgelassen und fröhlich sie war. ‚Hier bin ich, Sha-na-na!‘, rief sie immer, wenn sie in einen Raum platzte. Wer hat sich bei ihrem Anblick nicht gefreut, am Leben zu sein?“

      Hinter der Familie verteilen sich die Trauernden in der spärlich gefüllten Kapelle. Eine Gruppe von Mitarbeitern aus dem Portland ist anwesend, zusammen mit fünf oder sechs Bewohnern und einigen wenigen Leuten, die ich nicht erkenne.

      Die junge Sharon, so sagte man mir, war früher bildschön. Spuren dieser Schönheit waren noch vorhanden, als ich sie vor sechs Jahren kennenlernte, Spuren, die durch ihren zunehmend blasseren Teint, die eingefallenen Wangen und die verfaulenden Zähne allmählich verschwanden. In ihren letzten Jahren hatte Sharon oft Schmerzen. An ihrem linken Schienbein hatte sie durch injektionsbedingte bakterielle Infektionen zwei große offene Wunden. Wiederkehrende Infektionen führten dazu, dass sich mehrmalige Hauttransplantationen ablösten und das Fleisch ständig frei lag. Die entnervten plastischen Chirurgen im St. Paul’s Hospital hielten weitere Eingriffe für sinnlos. In ihrem chronisch geschwollenen linken Knie plagte sie ein Knochenabszess, der ab und zu aufflammte und dann wieder abklang. Diese Osteomyelitis wurde nie vollständig behandelt, weil Sharon nicht in der Lage war, die sechs bis acht Wochen Krankenhausaufenthalt durchzustehen, die erforderlich sind, um die intravenöse Antibiotika-Behandlung durchzuführen – auch dann nicht, als klar wurde, dass eine Amputation die einzige Alternative sein könnte. Da sie wegen ihres entzündeten Kniegelenks nicht belastbar war, wurde Sharon mit Anfang dreißig Gefangene eines Rollstuhls. Sie rollte ihn mit erstaunlicher Geschwindigkeit über den Gehweg von Hastings, wobei sie ihre starken Arme und ihr rechtes Bein einsetzte, um sich selbst vorwärts zu bringen.

      Der Priester vermeidet es taktvoll, das Bild der schmerzgeplagten Sharon heraufzubeschwören, deren Drogensucht sie zurück nach Downtown Eastside trieb, ehrt aber ihr lebendiges Wesen.

      „Vergib uns, Herr, denn wir wissen nicht, es wertzuschätzen … Das Leben ist ewig, die Liebe ist unsterblich … Für jede Freude, die vergeht, wird etwas Schönes geschaffen …“, intoniert der Priester. Zuerst höre ich nur eine Litanei von Begräbnisfloskeln und bin verärgert. Doch schon bald fühle ich mich getröstet. Angesichts des vorzeitigen Todes, so wird mir bewusst, gibt es keine Klischees. „Für immer Sharon, diese Stimme, dieses Wesen … ruhe in Frieden und in alle Ewigkeit …“

      Das leise Schluchzen der Frauen tönt als Kontrapunkt zu den tröstenden Worten des Priesters. Als er das Buch am Rednerpult schließt, schaut er feierlich durch den Raum. Er verlässt das Podium und Musik ertönt: Andrea Bocelli singt eine gefühlvolle italienische Arie. Die Trauernden sind eingeladen, Sharon, die in einem offenen Sarg unterhalb des Rednerpultes liegt, die letzte Ehre zu erweisen. Einer nach dem anderen gehen sie hin, neigen den Kopf und kehren um, um der Familie ihr Beileid auszusprechen. Beverly nähert sich dem Sarg. Ihr Gesicht ist von den Kokain-Injektionen entstellt. Sie stützt Penny, die über ihre Gehhilfe gebeugt ist. Die beiden waren enge Freundinnen von Sharon. Tom, dessen heiseres, alkoholgeschwängertes abendliches Gebrüll normalerweise Hastings durchdröhnt, hat sich schick gemacht. Stocknüchtern und düster, mit weißem Hemd und Krawatte, verneigt er sich in stillem Gebet vor dem blumengeschmückten Sarg und bekreuzigt sich.

      Sharons weiß geschminktes Gesicht trägt einen naiven, unsicheren Ausdruck, ihr rot geschminkter Mund ist geschlossen und leicht schief. Mir scheint, dass dieser leicht verwirrte, kindliche Ausdruck die Innenwelt der lebenden Sharon wahrscheinlich besser widerspiegelt als der raue Charakter, den sie oft in meiner Praxis zur Schau stellte.

      An einem Morgen im April wurde Sharon tot in ihrem Bett gefunden. Sie lag auf der Seite, ruhig, als würde sie träumen, ihre Gesichtszüge frei von Schmerz oder Bedrängnis. Über die Todesursache konnten wir nur Vermutungen anstellen, aber eine Überdosis war am wahrscheinlichsten. Trotz ihrer langjährigen HIV-Infektion und ihrer geringen Immunität war sie nicht krank gewesen, aber wir wussten, dass sie, seit sie die Rehaklinik verlassen hatte, stark Heroin konsumierte. In ihrem Zimmer gab es keine Drogenutensilien. Anscheinend hatte sie sich das, was sie getötet hatte, in einer Nachbarwohnung gespritzt, bevor sie in ihre eigene zurückgekehrt war. Der gescheiterte Rehabilitationsversuch machte alle traurig, die sich um sie gekümmert hatten. Nach allem, was man hört, schien es ihr gut zu gehen. „Weitere vier Wochen ohne Injektion, Maté“, berichtete sie stolz bei einem ihrer monatlichen Telefonate. „Schicken Sie mir bitte mein Methadon-Rezept?! Ich will es nicht abholen, sonst werde ich wieder in den Drogenkonsum gezogen.“ Die Mitarbeiter, die sie in der Rehaklinik besuchten, berichteten, dass sie lebhaft war, eine gute Gesichtsfarbe hatte und fröhlich und optimistisch wirkte. Trotz ihres Heroin-Rückfalls war ihr Tod ein Schock, und selbst jetzt, wo ihr Körper in der Kapelle aufgebahrt ist, ist er schwer zu akzeptieren. Ihre Lebendigkeit, Heiterkeit und unbändige Energie waren so sehr Teil unseres Lebens gewesen. Nach den freundlichen und feierlichen Worten des Priesters hätte Sharon aufstehen und mit uns anderen hinausgehen sollen.

      Nach dem Gottesdienst mischen sich die Trauernden noch eine Weile auf dem Parkplatz, bevor sie ihre getrennten Wege gehen. Es ist ein heller, strahlender Tag, zum ersten Mal in diesem Jahr zeigt die Frühlingssonne ihr Gesicht am Himmel von Vancouver. Ich begrüße Gail, eine Ureinwohnerin, die sich tapfer dem Ende ihres dritten Monats ohne Kokain nähert. „Siebenundachtzig Tage“, strahlt sie mich an. „Ich kann es nicht glauben.“ Es ist nicht nur eine Übung in Willenskraft. Gail wurde vor zwei Jahren wegen einer heftigen Unterleibsinfektion ins Krankenhaus eingeliefert und bekam einen künstlichen Darmausgang, damit sich ihre entzündeten Eingeweide erholen konnten. Die durchtrennten Darmabschnitte hätten schon längst wieder operativ zusammengefügt werden müssen, aber der Eingriff wurde immer wieder abgesagt, weil Gails intravenöser Kokainkonsum die Heilungschancen gefährdete. Der ursprüngliche Chirurg hatte es abgelehnt, noch einmal einen Termin mit ihr zu machen. „Ich habe den OP-Saal mindestens dreimal umsonst gebucht“, sagte er mir. „Ich werde es nicht noch einmal machen.“ Ich konnte seiner Logik nicht widersprechen. Ein anderer Spezialist erklärte sich widerwillig bereit, mit der Behandlung fortzufahren, aber nur unter der strengen Bedingung, dass Gail vom Kokain fernbleibt. Wenn sie diese letzte Gelegenheit verpasst, kann sie für den Rest ihres Lebens ihren Kot in den Plastikbehälter entleeren, der an ihren Bauch geklebt ist. Sie hasst es, den Beutel wechseln zu müssen, manchmal mehrmals am Tag.

      „Alles klar, Doc?“, begrüßt mich der stets gut gelaunte Tom und knetet mir leicht die Schulter. „Schön Sie zu sehen. Sie sind ein guter Mann.“ „Danke“, sage ich. „Sie auch.“ Die magere Penny, die immer noch von ihrer kräftigen Freundin Beverly gestützt wird, schlurft davon. Sie stützt sich mit der rechten Hand auf ihre Gehhilfe und schattet mit der linken Hand ihre Augen gegen die Mittagssonne ab. Penny hat erst vor Kurzem eine sechsmonatige intravenöse Antibiotika-Kur gegen eine Wirbelsäuleninfektion abgeschlossen, die sie bucklig und wackelig auf den Beinen werden

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