Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Abgesehen von der unmittelbaren orgasmischen Befreiung des Süchtigen aus der Gegenwart haben Drogen die Macht, das Schmerzliche erträglich und das Alltägliche lebenswert zu machen. „Es gibt eine so klare und perfekte Erinnerung, dass mein Gehirn an bestimmten Tagen auf nichts anderes hört“, schreibt Stephen Reid – Autor, inhaftierter Bankräuber und selbsternannter Junkie – über seinen ersten Drogenkonsum im Alter von elf Jahren. „Ich fühlte tiefe Ehrfurcht vor dem Alltäglichen – dem blassen Himmel, der blauen Fichte, dem rostigen Stacheldrahtzaun, den verwelkten gelben Blättern. Ich bin high. Ich bin elf Jahre alt und verbunden mit dieser Welt. Völlig naiv trete ich in das ‚Herz der Unwissenheit‘1 ein. In ähnlicher Weise hat Leonard Cohen über,das Versprechen, die Schönheit und die Erlösung durch Zigaretten‘ geschrieben …“
Wie Muster in einem Wandteppich tauchen in meinen Interviews mit Süchtigen wiederkehrende Themen auf: die Droge als emotionales Betäubungsmittel, als Mittel gegen ein schreckliches Gefühl der Leere, als Tonikum gegen Müdigkeit, Langeweile, Entfremdung und ein Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit, als Stresslöser und sozialer Schmierstoff. Und die Droge kann, wie in Stephen Reids Beschreibung, – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – die Pforten zur spirituellen Transzendenz öffnen. Egal in welcher Gesellschaftsschicht, diese Themen zerstören überall das Leben der Hungergeister. Sie wirken mit tödlicher Gewalt auf die Kokain-, Heroin- und Chrystal-Meth-Süchtigen von Downtown Eastside. Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen.
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Im Portland gibt es ein Foto, das Sharon zeigt, die in einem schwarzen Badeanzug auf einem sonnengesprenkelten Deck die Beine in das schimmernde, klare Wasser eines blau gefliesten Pools taucht. Entspannt und gelassen lächelt sie direkt in die Linse des Fotografen. Dies ist die junge Frau, voller Freude und Möglichkeiten, der der Priester mit diesem Foto ein Denkmal setzte. Es entstand einige Monate vor ihrem Tod, als Sharon im Haus ihres Zwölf-Schritte-Paten die Wärme eines Nachmittages im Spätherbst genoss.
In den zwölf Jahren, die Sharon in Downtown Eastside verbrachte, konnte sie diese zwölf Schritte nicht vollenden. Sie war bis zu dem Tag, an dem sie als Bewohnerin im Portland aufgenommen wurde, so gestört und kokainaggressiv gewesen, dass sie nicht einmal zu Besuch ins Haus kommen durfte. „So läuft es“, sagte Kerstin Stuerzbecher, Direktorin der Portland Society, im Foyer der Kapelle nach Sharons Beerdigung. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder verursacht man zu viel Stress, um hier leben zu dürfen, oder man macht so viel Ärger, dass man nur hier leben kann.“
„Und auch nur hier sterben kann“, fügte Kerstin hinzu, als wir in das Sonnenlicht hinaustraten.
* Infektionen entstehen durch Bakterien, die während der Drogeninjektion in das Gewebe injiziert werden und durch den Blutkreislauf zu inneren Organen wie Lunge, Leber, Herz, Wirbelsäule und Gehirn transportiert werden.
KAPITEL 3
Die Schlüssel zum Paradies: Sucht als Flucht aus der Verzweiflung
Sucht als „schlechte Angewohnheit“ oder „selbstzerstörerisches Verhalten“ abzutun, verbirgt leicht ihre Funktionalität im Leben des Süchtigen.1
DR. VINCENT FELITTI, ARZT AND WISSENSCHAFTLER
Es ist unmöglich, die Sucht zu verstehen, ohne zu erkunden, welche Erleichterung der Süchtige durch die Droge oder das Suchtverhalten findet bzw. zu finden hofft.
Thomas De Quincey, ein Literat des frühen neunzehnten Jahrhunderts, war Opiumkonsument. „Die subtilen Kräfte, die in dieser mächtigen Droge stecken“, so schwärmte er, „beruhigen alle Irritationen des Nervensystems … halten die sonst schlaff werdenden animalischen Energien vierundzwanzig Stunden lang aufrecht. … Oh gerechtes, subtiles und alles eroberndes Opium … Du allein vermagst, dem Menschen diese Gaben zu geben und hast damit die Schlüssel zum Paradies.“ De Quinceys Worte fassen die Segnungen aller Drogen zusammen, wie sie der Süchtige erfährt – sie machen, wie wir später sehen werden, den Reiz aller süchtig machenden Obsessionen aus, unter Beteiligung von Drogen oder ohne.
Der chronische Drogenkonsum ist weit mehr als die Suche nach Vergnügen, er ist der Versuch des Süchtigen, der Not zu entkommen. Aus medizinischer Sicht reagieren Süchtige mit selbstmedikamentösen Maßnahmen auf Depressionen, Angstzustände, posttraumatischen Stress oder sogar ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).
Ob offen oder verdeckt, Süchte haben ihren Ursprung immer im Schmerz, im Unbewussten. Sie sind emotionale Betäubungsmittel. Heroin und Kokain, beides starke physische Schmerzmittel, lindern auch psychische Beschwerden. Tierkinder, die von ihren Müttern getrennt wurden, können leicht durch niedrige Dosen von Narkotika* beruhigt werden, so als wären es eigentlich körperliche Schmerzen, die sie durchleiden.2
Die Schmerzbahnen beim Menschen funktionieren nicht anders. Dieselben Gehirnzentren, die körperliche Schmerzen realisieren und „fühlen“, werden auch bei der Erfahrung emotionaler Ablehnung aktiviert: Auf Gehirnscans „leuchten“ sie als Reaktion auf soziale Ächtung genauso auf wie auf körperlich schädliche Reize.3 Wenn Menschen davon sprechen, sich „verletzt“ zu fühlen oder emotionale „Schmerzen“ zu haben, sind das keine abstrakten oder poetischen Formulierungen, sondern wissenschaftlich recht präzise.
Das Leben des schwer Drogensüchtigen ist von einem Übermaß an Schmerzen geprägt. Kein Wunder, dass er sich verzweifelt nach Linderung sehnt. „In wenigen Augenblicken wechsele ich von der Erfahrung des totalen Elends und der Verletzlichkeit zum Gefühl völliger Unverwundbarkeit“, sagt Judy, eine sechsunddreißigjährige Heroin- und Kokainabhängige, die jetzt versucht, von ihrer zwei Jahrzehnte währenden Sucht loszukommen. „Ich habe eine Menge Probleme. Ein Großteil der Gründe, warum ich Drogen nehme, besteht darin, dass ich diese Gedanken und Emotionen loswerden und sie vertuschen will.“
Die Frage lautet nie „Warum die Sucht?“, sondern „Warum der Schmerz?“.
Die Forschungsliteratur ist eindeutig: Die meisten schwerst Substanzabhängigen kommen aus misshandelnden Familien.4 Die Mehrheit meiner Patienten aus den heruntergekommenen Vierteln erlitt schon früh im Leben schwere Vernachlässigung und Misshandlung. Fast alle süchtigen Frauen, die in Downtown Eastside leben, wurden in ihrer Kindheit sexuell missbraucht, ebenso wie viele der Männer. Die autobiografischen Berichte und Fall-Akten der Bewohner von Portland erzählen Geschichten von Schmerz ohne Ende: Vergewaltigung, Schläge, Erniedrigung, Ablehnung, Verlassenwerden, unerbittliche Verleumdung. Als Kinder waren sie gezwungen, Zeuge von gewalttätigen Beziehungen, selbstschädigenden Lebensmustern oder selbstmörderischen Abhängigkeiten ihrer Eltern zu werden – und mussten sich oft um sie kümmern. Oder sie waren für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich und versuchten sie vor Missbrauch zu schützen, während sie selbst die tägliche Verletzung ihres eigenen Körpers und ihrer Seele ertrugen. Ein Mann wuchs in einem Hotelzimmer auf, in dem seine Mutter als Prostituierte in der Nacht eine Reihe von Männern befriedigte, während er als Kind auf seiner Schlafstelle auf dem Boden schlief oder es zumindest versuchte.
Carl, ein sechsunddreißigjähriger Ureinwohner, wurde von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht, bekam im Alter von fünf Jahren Spülmittel in die Kehle geschüttet, weil er unflätige Ausdrücke gebraucht hatte, und wurde in