Big Ideas. Das Klassische-Musik-Buch. Hall George
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Was heute als westliche klassiche Musik bezeichnet wird, entwickelte sich aus der Kirchenmusik des mittelalterlichen Europas, deren Wurzeln wiederum in der jüdischen sowie in der altrömischen und altgriechischen Musik liegen. Unsere Kennntnisse über diese frühe Musik sind jedoch begrenzt, da es sich dabei um eine mündliche Tradition handelte, die von den Musikern auswendig gespielt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde.
Die Rolle der Kirche
Das wenige uns Bekannte stammt aus zeitgenössischen Berichten, die fast ausschließlich von geistlicher Musik handeln, denn die Kirche hatte damals das Bildungsmonopol. Die Geschichte der klassischen Musik beginnt mit geistlichen lateinischen Texten, die Mönche während des Gottesdienstes sangen. Dabei handelte es sich um Vokalmusik ohne Begleitung, bestehend aus einer Einzelmelodie, die von einer Stimme oder unisono von einem Chor gesungen wurde. Jede Region besaß eine eigene Sammlung dieser Choralgesänge. Während seiner Amtszeit (590–604) versuchte Papst Gregor I. jedoch im Rahmen seiner Bemühungen, die Liturgie zu vereinheitlichen, die regionalen Varianten dieser Gesänge zu sammeln, zu ordnen und zu standardisieren.
Um die einheitliche Darbietung der Gesänge in der gesamten Christenheit zu garantieren, wurde eine Form der Notation entwickelt, die »Neumen«. Frühe Zeugnisse finden sich im 9. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um kleine Symbole, die über den Text gesetzt werden und die Melodie grafisch darstellen. Parallel dazu etablierte sich die Heilige Messe als eine standardisierte Form des Gottesdienstes, deren verschiedenen Abschnitten bestimmte Gesänge zugeordnet wurden. Auch die Notation wurde verfeinert, und zwar mit einer horizontalen Linie zur bessern Unterscheidung der Tonhöhe.
In musikalischer Hinsicht besonders bedeutend war die Entwicklung des Organums, einer einfachen Mehrstimmigkeit mit zwei bis maximal vier Stimmen. Eine Stimme sang den Choral, die andere parallel dazu ein paar Töne höher oder tiefer. Mit zunehmender Komplexität der Musik verfeinerten sich auch die Möglichkeiten, sie aufzuschreiben. Im 12. Jahrhundert setzte sich ein System aus quadratischen und rautenförmigen Noten durch, die auf vier oder mehr Linien platziert wurden: die Quadratnotation – der Vorläufer unserer heutigen Musiknotation.
Musik verbreitet sich
Die Notation half nicht nur, die Interpretation musikalischer Werke zu vereinheitlichen, sondern auch, neue Musik zu schreiben. Etwa ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich die klassische Musik so, wie wir sie heute kennen. Sie war nicht länger anonym und wurde nicht nur mündlich weitergegeben, sondern von namentlich bekannten Komponisten schriftlich verfasst. Schon bald wichen die einfachen Harmonien des Organums einem innovativen und komplexeren Stil, der Polyphonie, bei der jede Stimme eine eigene Melodielinie sang. Diese von Leonin und Perotin in Paris im Umfeld der Kathedrale Notre Dame entwickelte Technik breitete sich schnell in ganz Europa aus.
Zur selben Zeit erblühte auch die weltliche Musik. Fahrende Musikanten unterhielten die Adeligen an den Höfen und das Volk auf den Straßen. Sie waren sowohl Dichter als auch Komponisten und Interpreten und boten ihre Lieder im Gegensatz zu den Kirchenmusikern mit Instrumentalbegleitung dar. Sehr wahrscheinlich spielten sie auch instrumentale Tanzmusik, doch da die weltliche Musik nach wie vor nur mündlich weitergegeben wurde, ist sie nicht überliefert.
Zur Darstellung des Rhythmus wurde in der Notre-Dame-Epoche die relativ starre Modalnotation verwendet. Diese wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts, in der Ars-antiqua-Epoche, von der flexibleren Mensuralnotation abgelöst und im 14. Jahrhundert, in der Ars-nova-Epoche, verbessert und den steigenden Anforderungen einer immer komplexer werdenden Mehrstimmigkeit angepasst.
Der neue Stil blieb nicht allein den Messgesängen vorbehalten. Es wurden auch kurze Stücke mit neuem Text, sogenannte Motetten, verfasst. Manchen lagen geistliche Texte zugrunde, aber eine ganze Reihe »seriöser« Komponisten schrieb polyphone Motetten auf der Grundlage weltlicher Gedichte. Mit der heraufziehenden Renaissance verlor die Kirche ihren Alleinanspruch auf Musik. Geistliche und weltliche Musik wurden ebenbürtig und begannen Seite an Seite zu florieren.
PSALMODIE IST DIE WAFFE DER MÖNCHE
CHORALGESANG (6.–9. JH.), ANONYM
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Choralgesang
FRÜHER
Um 1400 v. Chr. In der Stadt Ugarit in Nordsyrien werden religiöse Hymnen in fragmentarischer Notation auf einer Lehmtafel festgehalten.
Um 200 v. Chr.–100 n. Chr. Das »Seikilos-Lied« auf einem Grabstein nahe Ephesos in der Türkei ist das älteste, vollständig erhaltene, in Notation verfasste Musikstück.
SPÄTER
1562–1563 Das Kirchenkonzil von Trient verbietet das Singen von Sequenzen, einer Ausschmückung des schlichten Choralgesangs.
1896 Mit dem Liber Usualis versuchen die Mönche der Abtei zu Solesmes, den durch jahrhundertelangen Gebrauch verfälschten gregorianischen Gesängen ihre ursprüngliche Form wiederzugeben.
Die frühe christliche Kirche begann als jüdische Sekte, deshalb hatten die Liturgien dieses neuen Glaubens viel mit denen der jüdischen Gottesdienste gemeinsam, wie etwa das wiederholte Sprechen oder Singen von heiligen Texten und Gebeten. Die Christen konzentrierten sich insbesondere auf bestimmte Rituale wie das Nachstellen des letzten Abendmahls und das Singen von Psalmen, das Lesen der Bibel und das Gebet, mit denen die Feste und Feiertage der neuen Kirche begangen wurden. Im Lauf der Zeit entwickelten sich daraus die Heilige Messe und das Stundengebet (mehrmals tägliche Zusammenkünfte einer Ordensgemeinschaft zum Gebet).
Der hl. Ambrosius in seinem Studierzimmer (Holzschnitzerei um 1500). Für den römischen Bischof war die Hymne, ein Lobgesang, ein elementarer Teil des Gottesdienstes.
Liturgische Gesänge
Mit dem Christentum verbreiteten sich auch dessen Zeremonien. Diese wurden in den Sprachen der Gemeinschaften gefeiert, in denen sie wurzelten, etwa Aramäisch in Palästina und Griechisch in Rom. In der Folge entwickelten sich unterschiedliche Riten wie der mozarabische in Spanien, der gallikanische im römischen Gallien und der ambrosianische, benannt nach Ambrosius, einem mailändischen Bischof des 4. Jahrhunderts.
Von diesen frühen Liturgien blieben nur die römischen und ambrosianischen Choräle erhalten. Wegen ihrer einfachen Melodien ohne Begleitung, die in einer Art Sprechgesang die unmetrische Prosa von Gebeten, Psalmen und der Heiligen Schriften wiedergeben, wurden sie auch Cantus planus (lateinisch für ebener, einfacher Gesang) genannt. Trotz ihrer Unstrukturiertheit folgte diese Musik weitestgehend dem altgriechischen modalen System der siebentönigen Oktaven mit fünf Tönen und zwei Halbtönen.