Big Ideas. Das Klassische-Musik-Buch. Hall George

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deshalb eher von »Heterophonie« (Ausschmückung der Melodielinie).

       Vereinzelte Beispiele

      2014 entdeckte man in der British Library in einer Handschrift aus der Zeit um 900 ein kurzes Organum-Stück für zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander bewegen. Wie es scheint, waren Ende des 9. Jahrhunderts einige Sänger in Nordwestdeutschland bereits mit dieser Organum-Technik vertraut. Auch wenn dies ein Einzelfall blieb, gilt dieses Stück mit dem Titel Sancte Bonifati martyr (»Hl. Bonifatius der Märtyrer«) als das älteste notierte polyphone Musikstück, das uns bekannt ist.

      Das Winchester Tropar (um 1000), ein Manuskript in zwei Büchern, das einige Jahrzehnte nach Sancte Bonifati martyr in der Kathedrale von Winchester aus französischen Quellen kopiert wurde, gibt Einblick in die monastische Musik Englands vor der Eroberung durch die Normannen. Der zweite Band des Winchester Tropar enthält 174 Organa, was ihn zur ersten umfassenden Sammlung polyphoner Kompositionen macht. Allerdings setzt die Notation bei den Sängern offenbar gewisse Grundkenntnisse des Repertoires voraus, denn die Neumen ohne Notenlinien zeigen weder in der Hauptstimme noch in der Begleitstimme die genaue Tonhöhe an, was eine akkurate Transkription dieser Stücke sehr erschwert.

      Ein Jahrhundert nach dem Winchester Tropar zeigen die Organa der St.-Martial-Handschriften (aus Limoges, am Jakobsweg gelegen) eine größere Selbstständigkeit der beiden Stimmen. So auch im Codex Calixtinus (um 1140) aus Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens. Die Notation war, was die Tonhöhe anging, weniger zweideutig als im Winchester Tropar, und sie legt den Schluss nahe, dass das Repertoire größtenteils in einem bestimmten Rhythmus gesungen wurde. Die Begleitstimme liegt nun über der Hauptstimme. Die Stücke sind fast alle zweistimmig und teilweise melismatisch, das heißt, die höhere Stimme war reicher ausgeschmückt als die tiefere Stimme. Der Codex Calixtinus enthält die vermutlich erste notierte dreistimmige Komposition mit dem Titel Congaudeant catholici.

       Die Notre-Dame-Schule

      Während die Kathedrale Notre Dame auf der Île de la Cité in Paris in die Höhe wuchs, entstand neben der Haltetonfaktur die Discantusfaktur. Bei Ersterer teilen sich die beiden Stimmen in eine ausgeschmückte, melismatische Vox organalis über einer Vox principalis mit vorranig langen Noten. Diese Unterscheidung spiegelt sich in den neuen Begriffen tenor (»haltend«) und duplum (»zweite Stimme«) wider. Bei Letzterer singen beide Stimmen Note gegen Note.

      Leonin gab seinen Kompositionen eine rhythmische Struktur – der Beginn der sogenannten »Modalnotation«. Die Modalrhythmik steuert den Rhythmus einer Komposition nach sechs metrischen Mustern, die dem klassischen Versmaß entsprechen. Zum Aufschreiben benutzte man zwei Notenwerte, longa und brevis (lang und kurz), die Dauer der Noten war abhängig vom Kontext. Leonins Entwicklung des Organums im Discantusstil ist zum Teil auf diese Innovation zurückzuführen.

      »[Perotin] notierte seine Bücher getreu nach Gebrauch und Gewohnheit seines Meisters und sogar noch besser.«

       Anonymus IV

      Perotin überarbeitete Leonins Discantuspartien, gab ihnen mehr Rafinesse und komponierte sogar drei- und vierstimme Organa (tripla und quadrupla). Davon war der Bischof von Paris so begeistert, dass er 1198 die Aufführung von Perotins vierstimmigen Werken Viderunt omnes und Sederunt principes am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag sowie am Neujahrstag anordnete. image

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      Perotin, von Anonymus IV auch Meister Perotin genannt, soll von etwa 1160 bis nach 1200 gelebt haben. Die Illustration zeigt ihn mit einem Glockenspiel in Notre Dame in Paris.

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      TANDARADEI, SANG SCHÖN DIE NACHTIGALL

      LE JEU DE ROBIN ET DE MARION (1280–1283), ADAM DE LA HALLE

       IM KONTEXT

      SCHWERPUNKT

       Weltliche Musik im Mittelalter

      FRÜHER

      Um 1160 Das Festum stultorum (Narrenfest) um Weihnachten ist in Paris und Beauvais die Gelegenheit für den Klerus, sich an einer Parodie der Liturgie zu erfreuen.

      Um 1230 Ludus Danielis (Daniels Spiel) wird in Beauvais als liturgisches Drama auf Lateinisch verfasst.

      SPÄTER

      Spätes 14. Jh. Der Jahreskreislauf der Mysterienspiele – die Darstellung religiöser Szenen mit Musik – beginnt in York und Wakefield (England).

      Im mittelalterlichen Europa erblühten in den Städten und Dörfern ebenso wie an den Höfen der Adelsfamilien diverse weltliche Musiktraditionen, doch kaum eine davon wurde schriftlich in Noten gefasst. Denn während die Kirche ihr musikalisches Repertoire von Schreibern festhalten ließ, wurde der Großteil der weltlichen Musik nach wie vor nur mündlich weitergegeben.

      Das Fehlen schriftlicher Quellen ist jedoch nicht allein die Folge mangelnder Bildung. Für viele Tanzmusiker und Epensänger hätte eine Niederschrift der improvisatorischen Natur ihres Berufs widersprochen, die Generationen von Unterhaltungskünstlern pflegten und verfeinerten. Darüber hinaus wollte keiner von ihnen riskieren, dass eine Abschrift ihrer Werke in die Hände von Konkurrenten fiel.

      Die Quellen der weltlichen europäischen Musik finden sich meist dort, wo populäre Stile das Interesse des Adels oder der Kirche weckten. So fanden zum Beispiel südfranzösische Kreuzritter die hoch entwickelte Instrumental- und Vokalmusik des Heiligen Landes sehr reizvoll, sodass die Zeit der Kreuzzüge nicht nur Konflikte und Feindseligkeit barg, sondern auch den kulturellen Austausch förderte.

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      Le Jeu de Robin et de Marion wurde 1907 im russischen St. Petersburg aufgeführt. Das Aquarell von Mstislav Debuschinski zeigt das Bühnenbild.

       Sprachen und Einflüsse

      Die poetischen Eigenarten der mittelalterlichen weltlichen Musik sind eng mit den regionalen Sprachen verbunden. Zwei mittelalterliche französische Sprachen entstanden aus dem Lateinischen: Okzitanisch oder la langue d’oc in Südfrankreich und Nordspanien (wo oc »ja« bedeutete) sowie la langue d’oïl nördlich der Loire (wo oïl »ja« hieß). Beide Regionen hatten ihre eigenen Varianten von Minnesängern: Im Süden war es der trobador und in der weiblichen Form die trobairitz, im Norden der trouvère. Beide Begriffe leiten sich wahrscheinlich vom altfranzösischen Wort trobar (»finden« oder »erfinden«) ab oder möglicherweise auch von dem arabischen Wort tarab (»Quelle der Freude«).

      Einer der ersten Trobadoren, Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien, soll »in Versen mit schönen Melodien«

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