Linda Haselwander. Irina Wittmer

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Linda Haselwander - Irina Wittmer

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Printausgabe gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz.

      Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von

       Marcel Diel, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Thomas Krämer.

      © 2005

       eBook-Ausgabe 2011

       RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151, Fax: 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-89801-762-6 Umschlag: Arne Houben

      Irina Wittmer

      Linda Haselwander

      Edition Schrittmacher Band 3

      RHEIN-MOSEL-VERLAG

      Für meine Familie

      Erster Teil

      Linda, Malte, Hermina, Franz

      Linda

      Linda Haselwander wurde im Juni 1953 geboren. Ihre Mutter reichte gerade einen Laib Brot über die Theke, als die Wehen jäh und furchtbar einsetzten. Sie rief den Gesellen, der frühstückte, in den Laden und legte sich nebenan in der Küche auf das Kanapee.

      Linda kam zur Welt während draußen unentwegt die Ladenglocke ging, während ihr Vater in der Backstube seinen Kirschstrudel, für den er bekannt war, aus dem Ofen zog und während ihre Großmutter im Waschhaus dampfende Laken aus dem Kessel zum Spülen in den Bottich hob.

      Als keine Kundinnen mehr kamen, schaute der Geselle kurz in die Küche. Es war peinlich. Er hatte nichts gehört. Eilig schloß er die Ladentür ab und zog den Vorhang vor. Die alarmierte Hebamme mußte das Kind nur noch abnabeln und baden. Immer wieder sagte sie, das ist ja ein ganz Zartes das, und die Großmutter versuchte, das verdorbene Kanapee zu säubern und mit weißen Tüchern zu bedecken, damit ihre Schwiegertochter ordentlich daliegen würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Oben stand der für das Krankenhaus gerichtete Koffer. Über ein Monat wäre noch Zeit gewesen. Der Vater und der Geselle mit ihren hohen Bäckerhüten auf den Köpfen schafften den Stubenwagen vom Schlafzimmer herunter, und das Kind, das kaum geschrien hatte, wurde hineingelegt.

      Die junge Mutter hieß Irmtraud. Ihr Vater arbeitete in einem Sägewerk, und sie hatte drei ältere Brüder und vier jüngere Schwestern. Aber sie war mit ihrem wunderbaren blonden Haar, das sie noch bis zur Hochzeit in vier Zöpfen geflochten trug, das schönste Mädchen ihres Jahrgangs gewesen, und an Festtagen hatte sie im Kirchenchor die Solostimme gesungen. Jetzt schwieg sie wie unter einem Schock und weinte sogar lautlos, als ihr die Hebamme half, die Schürze und das Kleid auszuziehen. Erst als sie gewaschen, in einem frisch gestärkten Nachthemd und gut zugedeckt auf dem Kanapee lag, spürte sie ein wenig Erleichterung.

      Natürlich hätte sie lieber zuerst einen Jungen gehabt. Er hätte nach seinem Vater Herrmann heißen müssen. Für ein Mädchen wußte sie jedoch einen schöneren Namen. In einem Roman, der auf einer afrikanischen Missionsstation spielte, und den sie viele Male gelesen hatte, kam eine Linda vor. Sie wurde die Frau des Pfarrers dort. In der Hochzeitsnacht sagte er zu ihr, Linda, was ich jetzt tun muß, geschieht im Namen des Herrn. Er war ein sehr rücksichtsvoller Mann, und sie schenkte ihm viele Kinder.

      *

      Huwihl liegt im Hochschwarzwald, in einer langgestreckten Talmulde, durch die ein Bach fließt. Die Berge steigen sanft an, sie sind mit Wiesen und im oberen Drittel mit Wald bedeckt. Bei bestimmten Wetterlagen kann man vom Aussichtsturm auf dem Immliberg oben bis zu den Schweizer und den Französischen Schneealpen sehen. Sie glühen dann am Horizont, als wollten sie verbrennen.

      Im Sommer kommen Feriengäste zum Wandern und zum Angeln, neben der Landwirtschaft ist das Vermieten von Zimmern eine wichtige Einnahmequelle. Entlang des Baches verläuft die Hauptstraße. Dort sind einige Geschäfte und Wirtshäuser, als Spezialität bieten sie vor allem Forellen an, die in vielen Variationen zubereitet werden. Seine Lage teilt den Ort in eine Sommerseite und in eine Winterseite. Von Oktober bis März scheint auf der Winterseite keine Sonne, so daß die Leute in ihren finsteren Zimmern schwermütig werden. Die meisten Häuser unten im Tal, wo, außer der katholischen, auch die kleine evangelische Kirche steht, sind aus Fachwerk gebaut. An den Hängen stehen vereinzelt Höfe mit ihren trutzigen Dächern und den blumengeschmückten Balkonen.

      Für Herrmann Haselwander, der gerne sagt, die Flöhe und die Wanzen gehören auch zum Ganzen, ist es ein Nachteil, daß seine Bäckerei nicht wie die seiner beiden Kollegen unten an der Hauptstraße liegt. Wer die Backwaren von Herrmann Haselwander kaufen möchte, muß eine schmale Straße ungefähr zweihundert Meter weit hinaufgehen. Dort ist es gleich der erste Hof, ein typisches Schwarzwaldhaus, allerdings nicht mehr mit Stroh, sondern mit Schiefer gedeckt. Die Fassade besteht aus weiß gestrichenen Schindeln, auch das Balkongeländer, eine aufwendige Laubsägearbeit, ist hell gestrichen, so daß das Haus, trotz des mächtigen Daches, freundlich und wie für ein Spiel aufgebaut wirkt.

      Noch vor der Währungsreform hat Herrmann Haselwander umgebaut und renoviert. Das Geld dazu gab ihm seine Mutter, die aus Bad Hohenbirch, der nahen Kreisstadt, stammte und die ein kleines Vermögen erbte, als ihre Tante starb. Wo früher der Stall war, ist das Haus jetzt nach hinten zur Bergseite verlängert, und es sind eine moderne Backstube und ein Laden mit einer weiß lackierten Theke und Vitrinen für die Kuchen und Pralinen eingerichtet worden. Über der Backstube und dem Laden entstanden zwei Fremdenzimmer mit fließend Kalt- und Warmwasser. Die Hausgäste bekommen ihr Frühstück in der Küche, wo sie besonders an kalten Tagen lange sitzen und die Aussicht über das ganze Tal genießen. Wenn sie baden wollen, steht ihnen, nach Anmeldung, das Familienbad zur Verfügung.

      Die Ställe für die Kuh, die zwei Schweine, die Hasen und die Ziegen sind in der Scheune untergebracht. Die Waschküche, in der es außer dem Einweichbottich und dem Kessel für die Kochwäsche auch eine automatische Maschine und eine Schleuder gibt, befindet sich jetzt im ehemaligen Backhäuschen.

      Linda wurde auf der Sommerseite, in Licht und Wärme und in den Duft nach frisch gebackenem Kirschstrudel hinein geboren. Ihr Vater und der Geselle trugen die hohen Bäckerhüte, die Großmutter hatte das Kopftuch fest im Nacken gebunden, und die Hebamme, die sagte, das ist ja ein ganz Zartes das, wurde von einem gefältelten Häubchen mit hellblauem Rand geschmückt. Es war an einem der ersten warmen Tage, die Wiesen blühten, und durch das geöffnete Küchenfenster kam das ewige Plätschern des Brunnens im Hof.

      Solange Linda in den Stubenwagen paßte, trugen ihn die Großmutter und die Mutter morgens aus dem Schlafzimmer in die Küche hinunter und abends wieder hinauf. Als sie größer war, wurde der Laufstall in der Mitte der Küche aufgestellt und mit einer Decke und Kissen ausgepolstert. Im Laufstall konnte sie schlafen und auch spielen, ohne daß ihr etwas passierte, während die Mutter im Laden bediente. Oft streckten Kundinnen wegen Linda ihre Köpfe in die Küche und sagten, das ist ja praktisch mit dem Ställchen, wie schön sie sich darin verweilt. Und oben auf der Konsole stand das Radio, spielte Operettenmelodien und beobachtete Linda mit seinem leuchtenden grünen Auge.

      Aber wenn ihr die Mutter zu lange im Laden blieb, weinte Linda still und gleich sehr verzweifelt. Oft boten sich Feriengäste an, das Kind auf ihren Spaziergängen mitzunehmen, doch das wollte die Mutter nicht. Immer fand sie Ausreden, warum es eben an diesem Tag nicht paßte. Was Linda betraf, war sie entschiedener als sonst.

      Lindas Lebenskreis erweiterte sich langsam. Der Stubenwagen, der Laufstall, die Küche. Die Großmutter meldete Linda, nachdem sie zwei Jahre alt war, im Kindergarten an,

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