Linda Haselwander. Irina Wittmer
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Fräulein Jadow studierte nicht allein ihre Schüler, sondern auch deren Familienverhältnisse genau. Bei ihren Hausbesuchen entging ihr nichts. Herrmann Haselwander überreichte ihr zum Abschied persönlich und mit einem verschwörerischen Blick ein Kuchenpaket. Natürlich, Fräulein Jadow war ja nicht blind. Lindas Mutter, diese farblose Frau, konnte doch kaum dreißig sein und ging schon zögerlich und gebeugt. Sie hing übermäßig an ihrer Tochter, ein ganz typischer Fall, wo die Mutter in der Tochter kein selbständiges Wesen sieht, sondern nichts als die hoffnungsvolle Fortsetzung ihres eigenen, hoffnungslosen Lebens. Aber die Art der Kleinen gefiel Fräulein Jadow, Linda schlug wohl eher nach dem Vater und ließ sich glücklicherweise nicht zu stark von der verweichlichenden, überängstlichen Mutter beeinflussen.
Fräulein Jadow klatschte Beifall, als ihr Linda vorführte, wie sie die muntere Bernhardinerin allein mit dem Blick dirigieren konnte. Ein rascher Augenaufschlag, eine kurze Kopfbewegung, und die Hündin reagierte sofort. Linda ließ sie wie ein Pferd über Hindernisse springen und wie einen Tiger durch den Hula-Hoop. Seit sie im Fernsehen Zirkus Krone gesehen hatte, träumte sie davon, mit Betty dort aufzutreten. Weil Betty, wenn Linda nicht in ihrer Nähe war, unentwegt heulte, ließ man sie aus dem Stall und mit zur Schule laufen. Bei jedem Wetter wartete sie vor dem Tor des Pausenhofs, bis Linda herauskam. Im Winter war sie oft völlig zugeschneit.
Natürlich war Linda die Lieblingsschülerin von Fräulein Jadow. Wenn es mit dem Stricken nicht so klappte, wurde sie zu ihr in die Wohnung im alten Schulhaus bestellt. Fräulein Jadow hatte eine Menge Bücher und einen Plattenspieler, auch Betty ging gerne hin, denn sie bekam dort ein saftiges Stück Wurst.
Wenn sich Linda auf den Weg zu Fräulein Jadow machte, hieß es immer, ach, gehst du schon wieder zu der. Einmischungen von außen konnten sie keine vertragen, da waren sich die Mutter und die Großmutter einmal einig. Manchmal verlegten sie beim Aufräumen Fräulein Jadows Bücher, so daß Linda sie weder zu Ende lesen noch zurückbringen konnte. Linda litt unter der Eifersucht der Mutter, nie durfte sie eine Freundin haben. Aber die Besuche bei Fräulein Jadow erkämpfte sie sich unter Tränen. Der Sog von draußen wurde immer stärker. Oft träumte Linda davon, zusammen mit Betty oben in der Jägerhütte zu wohnen oder ganz fortzuwandern und nie wiederzukehren, sie hätte kein Heimweh bekommen.
*
Linda geht an einem hellen, kalten Februartag auf das alte Schulhaus zu. Es liegt noch viel Schnee, aber die Straßen und Wege sind geräumt. Von einem leichten Wind werden Flocken dahingetrieben, sie fallen und steigen, sie trudeln in der Sonne dahin wie Pappelsamen. In einem Stall stößt ein Bulle entsetzliche, hohe Schreie aus. Es riecht nach frischem Mist. Neben Linda trabt Betty, stolz, sie trägt in der Schnauze das Handarbeitskörbchen zu Fräulein Jadow, die sie gewiß belohnen wird. Es ist keine Schule, weil Fastnachtsdienstag ist, aber mit Fastnacht hat Lindas Familie nichts zu tun, außer daß der Vater dann Krapfen backt und mit Marmelade füllt. Er hat für Fräulein Jadow eine pralle Tüte davon mitgegeben. Linda muß aus rosa und hellblauer Baumwolle einen Waschlappen stricken, aber ihr Strickzeug ist klebrig, bretthart und voller verdrehter Maschen.
Das alte Schulhaus liegt über dem Bach auf der Winterseite, von weitem sieht es wie eine vernachlässigte Villa aus. Es wird in Lindas Leben einen wichtigen Platz einnehmen. Seit Jahren findet der Schulunterricht nicht mehr dort, sondern in einem neuen, größeren Gebäude am Ortsende statt. Die ehemaligen vier Klassenräume werden jetzt von Vereinen zu Versammlungen benutzt, auch der Kirchenchor probt gelegentlich darin, und im Saal gleich links unten ist provisorisch die von Fräulein Jadow betreute Bibliothek untergebracht.
Unter dem Dach befinden sich zwei Wohnungen für Lehrer, in der einen wohnt Fräulein Jadow, die andere steht leer, weil die Gemeinde ungewisse Pläne mit dem Haus hat, das gründlich renoviert werden müßte. Zu dem Gebäude gehört ein mit einer hohen, gelben Mauer umgebener Garten, der verwildert ist, dieselbe Mauer begrenzt auch den Schulhof, in dem noch das Nebengebäude mit den Plumpsklos für die Schüler steht.
Fräulein Jadow hat für Linda Kakao gekocht. Trotz des sonnigen Tages ist es in dem Wohnzimmer dämmrig. Fräulein Jadow sitzt mit dem Strickzeug dicht beim Fenster. Beim besten Willen ist da nichts mehr zu machen, sie zieht es vollständig auf und schlägt neue Maschen an.
Wie schön still es hier ist. Keine Ladenglocke, kein Telephon. Bei Fräulein Jadow kann Linda gemütlich und vornehm im Sessel sitzen, und niemand verlangt etwas von ihr. Nachdem sie den Kakao ausgetrunken hat, darf sie eine Schallplatte auflegen. Sie sucht die Musik nach der Hülle aus, die ihr am besten gefällt. Lange zögert sie zwischen einem bunten Operettenchor und einem weißhaarigen Mann, der an einen Flügel lehnt. Arthur Rubinstein. Schließlich ertönt das erste Klavierkonzert von Beethoven. Das ist Musik. Fräulein Jadow schließt die Augen. Leuchtend wie der Tag heute, sagt sie und freut sich, weil das Kind die Schuhe auszieht und anfängt, sich zu bewegen. Ein Kätzchen, das nicht weiß, was es tut.
Fräulein Jadow selbst spielt Geige, wären die Zeiten damals besser gewesen, hätte sie wahrscheinlich Musik studiert, anstatt auf das Lehrerseminar zu gehen. Schon lange wollte sie mit Lindas Vater reden, der vernünftig schien, sie würde ihm anbieten, Linda kostenlos Unterricht zu geben.
Musik wird Linda immer veranlassen, ihr Leben stärker zu lieben, heftiger zu wünschen, freudiger zu geben und sich zu verschwenden. Wenn ich groß bin, werde ich Tänzerin, sagt Linda mit Gewißheit zu Fräulein Jadow, die für den Waschlappen zuerst die hellblaue Wolle verarbeitet. Und immer wird Linda jemanden finden, der für sie zuständig ist und ihr hilft, und sie läßt sich helfen.
*
Der lieb Gott het zuem Früehlig gsait:
»Gang, deck im Würmli au sy Tisch!«
Druf het der Chriesbaum Blätter trait,
viil tausig Blätter, grüen un frisch.
Fräulein Jadow hatte keine Probleme, als sie die Kinder in ihrer vierten Klasse »Das Liedlein vom Kirschbaum« von Johann Peter Hebel lesen ließ. Sie benötigten die Fußnoten im Lesebuch nicht. Schier unmöglich war es jedoch für Fräulein Jadow, ihnen das beizubringen, was sie selbst für hochdeutsch hielt.
Der lieb Gott het zuem Winter gsait:
»Deck waidli zue, was übrig isch!«
Druf het der Winter Flocke gstreut,
viil tausig Flocke, wyß un frisch.
Bei Linda zu Hause wurde auch mit den oftmals ratlosen Feriengästen unbefangen Dialekt gesprochen. Erst durch das Radio und dann erst recht durch das Fernsehen fing die Familie an, sich vor Fremden ein wenig tölpelhaft zu fühlen mit ihren Wörtern. Manchmal, wenn sie sicher war, daß es niemand hörte, sprach Linda mit Betty wie die Fernsehansagerin, für die sie schwärmte. Und heute Abend zeigen wir Ihnen die klügste Hündin der Welt im Zirkus Krone bei ihren einmaligen Kunststücken. Wir wünschen Ihnen eine gute Unterhaltung. Auch durch den Einfluß des Lehrerehepaares aus dem Rheinland und durch Fräulein Jadow, die ihre Kindheit jedoch in Dresden verbracht hatte, wurde Linda schon früh so etwas wie zweisprachig. Sie verfügte zumindest über eine zweite, eine abgemilderte Version ihres Dialektes. Aber sie mußte Eisenschuhe tragen und hätte doch gerne getanzt. Wer anders sprach als sie, beeindruckte sie unwillkürlich und erschien ihr klüger, besser, gewandter, so daß sie manchmal mitten in einem Satz hilflos verstummte.
*
Keiner