Linda Haselwander. Irina Wittmer
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Von klein auf neigte sie zu Phantastereien. Wenn sie in einer ihrer Erzählungen nicht weiter wußte, legte sie die linke Hand an den Hinterkopf und stemmte die rechte in die Hüfte. No geh scho, Mohrlerl. So stand sie dann eine Weile mit fest zugepreßten Augen da, als könne sie auf diese Weise ihre fortströmende Phantasie in den Kopf zurückrufen. Bei dem kleinen Mädchen wirkte das drollig, wie es dastand und sich besann, aber Hermina verlor diese Gewohnheit auch als Erwachsene nicht ganz.
Die Familie zählte zu den assimilierten Juden in Wien. Man hielt zwar noch an verschiedenen Gebräuchen fest, sie gingen an den Hohen Feiertagen zur Synagoge und fasteten an Jom Kippur, aber mit der Sabatruhe nahmen sie es nicht so genau, und sie hatten eine Köchin, die nicht koscher kochen konnte. Dennoch gab es einen gewissen Stolz darauf, Juden zu sein. Hermina hatte eine unbeschwerte Kindheit. Ihre Eltern waren unbekümmert und tolerant. Mit Problemen gaben sie sich nicht gerne ab. Ihr Haus stand jedem offen. Aber dann kam die furchtbare Zeit des Nationalsozialismus, die aller Sorglosigkeit ein Ende bereitete.
Trotzdem verlobte sich Hermina mit ihrer heimlichen Liebe, einem nichtjüdischen Deutschen. 1941 fiel er in Rußland. Hermina litt unsäglich. Als das Leben für die Juden in Wien immer schwieriger wurde, kam der Vater von einer Reise nach Frankreich nicht mehr zurück. Die Mutter meinte, für eine Frau mit drei Töchtern sei es doch gar nicht gefährlich. Aber Wien entledigte sich elegant seiner unnütz gewordenen Juden.
Nach der Flucht des Vaters wurde das Haus beschlagnahmt, und die vier Frauen mußten in ein enges Hinterzimmer ziehen. Die Vermieterin, eine energische Witwe, hatte ihren Mann im ersten Weltkrieg verloren. Sie hielt mit ihrer Meinung über das Nazipack, das nur Elend über alle brachte, nicht zurück. Hermina gab ihr eine Mappe mit Papieren, Briefen und Photos und legte schweren Herzens den Ring aus rötlichem Gold, den sie seit ihrer Verlobung getragen hatte, dazwischen. Durch ihre Phantasie war sie manchmal weitblickend. Tag und Nacht lebten die vier Frauen in der Angst davor, daß sie abgeholt würden. Längst getrauten sie sich nicht mehr auf die Straße. Obwohl Sommer war, litt die Mutter unter einem Husten, der sie dauernd nach Luft ringen ließ, sie konnte das Bett kaum noch verlassen. Als die Nazis schließlich vorfuhren, konnte auch die gewaltbereite Kriegerwitwe, die einen Schrank vor die Tür des Hinterzimmers gerückt hatte, um die vier Frauen zu verstecken, nichts ausrichten. Die tobende Horde schlug ihr in wenigen Minuten die Möbel zusammen und warf sie aus dem Fenster. Mit einem der letzten Judentransporte wurde Hermina zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern nach Theresienstadt verfrachtet. Das war im September 1942.
Die durch ihren Husten schon geschwächte Mutter starb kurz nach der Ankunft in Theresienstadt. Herminas Schwestern wurden aussortiert und nach Auschwitz weitergeschickt. Hermina bekam offenbar eine Frist. Viele Wochen verbrachte sie in Theresienstadt. Kapierte sie dort endlich, was es heißt, Jüdin zu sein? Im Winter dann wurde auch sie in einen der Viehwaggons gepfercht und nach Birkenau verfrachtet. Sie hoffte, dort doch ihre Schwestern oder ihren Vater wiederzusehen. Immer hielt sie Ausschau nach ihnen. Später erfuhr sie, daß zu der Zeit schon längst alle drei vergast worden waren. Im Juni 1944 wurde Hermina selektiert und wieder in einem Viehwaggon, der allerdings weniger beladen war als der erste, fortgeschafft. Diesmal ging die Fahrt durch eine idyllische Sommerlandschaft nach Niederschlesien in ein Außenlager von Groß-Rosen, wo sie, zum Skelett abgemagert, im Wald Baumstümpfe ausgraben sollte. Da die Häftlinge hier mit der Bevölkerung in Kontakt kamen, wurden ihnen die Haare nicht mehr geschoren.
Als bei Kriegsende die Russen näherrückten, wurden die wenigen Häftlinge, die noch lebten, von uniformierten Männern evakuiert. Diesmal ging es zu Fuß vorwärts. Das war im Februar 1945. In der Dämmerung des dritten Abends konnte sich Hermina zusammen mit zwei anderen Frauen davonschleichen. Die Aufseher waren selbst zu erschöpft, um lange zu suchen. Überall herrschte hektische Aufbruchsstimmung, Trecks wurden zusammengestellt, manche Höfe waren schon verlassen. Die drei Frauen versteckten sich in Scheunen und Ställen, zu essen fanden sie genug. Von einem Dorfpastor bekam Hermina gefälschte Papiere. Sie war nun keine Jüdin mehr, sondern Hilde Fidler, eine junge, deutsche Flüchtlingsfrau aus dem Osten. Im Durcheinander der letzten Kriegswochen gelangte Hermina nach München, zu Tante Vera, der Schwester ihrer Mutter, die dort mit einem polternden Gamsbart-Katholiken verheiratet war. Ja, Mohrlerl, wo kommst du denn her?
Hermina schämte sich zu erzählen, wie sie die letzten Jahre verbracht hatte. Appellstehen, Durst, vor allem Durst und Angst, Willkür, Stockschläge, Lastwagen voller Leichen, der Gestank des Rauches über dem Lager. Der SS-Mann, der munter vor sich hinpfeifend die nackten Frauen bei der Selektion Kniebeugen machen ließ. No geh scho, Mohrlerl.
Tante Vera frühstückte jeden Morgen von ihrem Meissner-Porzellan, sie hätte das alles ohnehin nicht geglaubt, deshalb erzählte Hermina gleich eine andere Geschichte. Und die Eltern und die Schwestern, die würde sie sicher in Wien wiedertreffen. Gewiß. Onkel Sepp hatte sich mit den Nazis arrangiert. Mit Blick auf seine Frau flüsterte er Hermina ins Ohr, daß er nur auf diese Weise auch Juden hätte retten können. Seine Geschäfte liefen äußerst zufriedenstellend.
Die Nächte verbrachte Hermina nun mit ihrer vor Angst schreienden Tante Vera im Keller. Nachdem Hermina drei Konzentrationslager überlebt hatte, wäre sie fast im Bombenhagel der Befreier umgekommen. Dann waren die Amerikaner da. Gutmütige, kaugummikauende junge Kerle. Hello! Sie wußten nicht, für wen und gegen wen sie da eigentlich gekämpft hatten. Ein jüdischer Kommandant der Militärregierung verschaffte Hermina eine Stelle bei der Organisation für »displaced persons«. Sie half, Kontakte zwischen auseinandergerissenen Familien herzustellen. Hermina wirkte bald kräftig und selbstbewußt. Sie wollte nichts Schlimmes erlebt haben, und sie wollte sich vor allem Schlimmen die Ohren verstopfen.
Bei ihrer Arbeit lernte sie Maxim Wisniewski kennen. Er war fünfzig Jahre alt, trug einen Kaftan und sah aus wie die Figur aus einem russischen Märchen. Nie sprach er etwas anderes als jiddisch. Jiddisch, sagte er bedeutungsvoll, ist älter als deutsch, es ist die Sprache der Juden. Er war stolz darauf, Jude zu sein, und Hermina sehnte sich nach einem Menschen aus einer Bilderbuchwelt. Maxim hatte die schlimme Zeit in Amerika verbracht. Er war Vorkriegsemigrant und suchte nun in dem verwüsteten Europa nach seinen Verwandten. Mit Malech, seinem Schutzengel, führte er lange Gespräche. Durch seine unbeirrte Frömmigkeit besann sich auch Hermina auf ihr Judentum. Plötzlich bekam sie ein Heimatgefühl. Sie wollte dazugehören, vertrauen, gläubig werden und die Gebräuche halten. Vielleicht würde ihr daher eine Erklärung für alles kommen. Sie erzählte Maxim nicht, daß sie ihr Jiddisch im Konzentrationslager gelernt hatte.
Maxim war ein russischer Bär aus dem Schtetl, ein chassidischer Bohémien, ein Künstler, ein Narr, der durch Kneipen zog, auf seinem »Harmoschke« spielte und dazu sang. Schon 1933 war er nach New York ausgewandert, um dort ein Kabarett zu gründen, nur das geeignete Auditorium von Jidden, das er sich gewünscht hatte, fehlte ihm noch, so daß er sich als Sänger bei Hochzeiten und Bar-Mízwa-Feiern durchschlagen mußte.
Niemand vorher hatte Hermina so zum Lachen gebracht wie Maxim, wenn er rief, Herminale, gib a Guck, was da tut sich. Seine Väterlichkeit und sein Humor machten sie in manchen Augenblicken wirklich sorglos. Herminale, du sitzt in mein Herz, du sitzt auf einen weichen Scheslan in mein Herz, sang Maxim und spielte dazu auf seinem Harmoschke. Er hob sie liebevoll verehrend auf einen Thron, und alle sollten den Schatz bewundern, den er besaß.
Wer wollte die Juden vor dem Krieg aufnehmen?
Wer wollte die Juden während des Krieges aufnehmen?
Wer wollte die Juden nach dem Krieg aufnehmen?
Hermina träumte davon, nach Palästina auszuwandern. Vielleicht hätte sie von Italien aus mit einem illegalen Schiff einreisen können. Vielleicht wäre sie aber von den Engländern erwischt und auf Zypern interniert worden. Vor Lagern hatte Hermina einen Horror. Maxim schwärmte von New York. In New York sei er so gut wie zu Hause. Endlich würde