Linda Haselwander. Irina Wittmer

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Linda Haselwander - Irina Wittmer

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nur so auf der Straße herum. Alle Juden und alle Nicht-Juden in New York würden allabendlich Maxim Wisniewskis Kabarett füllen. Sie gab seinem sanften Drängen nach. 1948 heirateten sie und nahmen ein Schiff nach New York.

      Zuerst wohnten sie in einem von einer jüdischen Hilfsorganisation zur Verfügung gestellten Obdachlosenhaus. Bald fanden sie eine billige Einzimmerwohnung mit einer geräumigen Küche, die jedoch kein Fenster hatte. In einem mit Stoff verhängten Regal war alles, was sie besaßen. Ein paar Kleidungsstücke, drei, vier Bücher, eine Pfanne und das Eßgeschirr. Nie wurden sie den Geruch nach feuchtem Keller und Schimmel los.

      Maxim verbrachte viel Zeit damit, mit anderen Künstlern zu-sammen die Gründung des Kabaratts vorzubereiten. Sie planten und probten, aber bald war es doch wieder noch nicht ganz das Richtige. Abends zog er mit seinem Harmoschke von Kneipe zu Kneipe. Sie kamen nicht weiter. Herminale, mein Neschome, so wie an schlechta Traum kommt mir das vor.

      New York forderte Anpassung, es zeigte den Einwanderern seine Krallen, das Geld war eine ständige Sorge. Hermina nahm eine Stelle als Gesellschafterin bei einer behinderten Dame an. Wenn sie unter die Leute ging, konnte sie wenigstens ihr Englisch verbessern. Da die Zugehfrau der Dame krank war, putzte Hermina, wusch die Wäsche und kochte dem Königspudel seine Diätmahlzeit. Alle drei Stunden mußte er um den Häuserblock geführt werden. Von der Vermieterin aus Wien ließ sich Hermina die schmale Mappe schicken, die sie ihr gegeben hatte, bevor die Nazis kamen. Darin waren ein paar Briefe und Photos, Urkunden und Zeugnisse. Ihr Verlobungsring steckte noch dazwischen.

      An einer Nursing School bewarb sich Hermina um eine Ausbildung. Aber in einem Schreiben erklärte man ihr, mit achtundzwanzig sei sie zu alt und außerdem sei eine, die im Konzentrationslager war, ungeeignet dafür, als Krankenschwester zu arbeiten. Schließlich fand sie Arbeit in der medizinischen Bäderabteilung eines Krankenhauses, wo sie den Leuten Massagen und Wickel verabreichen mußte. Sie verdiente nun besser, ließ sich Dauerwellen legen und kaufte ein Kleid mit einem schwingenden Petticoat darunter. Ein Arbeitskollege lud sie abends ins Kino ein.

      Als sie nach Hause kam, brüllte Maxim wie ein Irrer. Er schlug auf sie ein und zerriß das Kleid in Fetzen. Tagelang mußte sie im Zimmer bleiben, weil sie sich schämte. Ihr Gesicht war blau geschlagen, die Lippen aufgeplatzt. Maxim heulte vor Reue wie ein Kind. Herminale, mein Neschome, das Liebste in mein ganzen Leben!

      1950 bekam Hermina einen Sohn. Sie nannte ihn Franz nach ihrem Vater, der in Auschwitz vergast worden war. Durch das Kind hing sie nun völlig von Maxim ab. Tante Vera, die immer gegen die Heirat mit diesem Ghetto-Juden gewesen war, schickte gute Ratschläge und vor allem Geld. Ohne Tante Veras Hilfe hätten sie nicht einmal die Geburt im Krankenhaus bezahlen können. Drei Jahre später befreite sich Hermina von der einlullenden Liebe und von den Eifersuchtsszenen Maxims. Sie hinterließ nicht einmal eine Nachricht. Mit dem Jungen und einem kleinen Koffer kam sie bei Tante Vera in München an. Da war schon ein Kinderzimmer eingerichtet worden. Ein Schaukelpferd und ein rotes Tretauto für Franz.

      Aus New York kamen verzweifelte Briefe. Herminale, aus großer Liebe zu Dir versagen meine Nerven, und ich mache Sachen, die Dir und mir wehtun. Du mein Liebstes, Du meine Heilige, Du sitzt auf einen Scheslan in mein Herz. Bis in den Tod Dein Maxim.

      Hermina durfte den Führerschein machen und in dem Cabriolet der Tante zum Chiemsee hinaus fahren. Es war Sommer, sie war braungebrannt und sportlich, man hielt sie für eine Italienerin oder für eine Spanierin, sie hatte Verehrer. Aber Hermina, die den Ring des im Krieg gefallenen Verlobten nun zu ihrem Ehering dazugesteckt trug, wollte nichts mehr von Männern wissen. Über ein Jahr spielte sie im Haus von Tante Vera, die so gerne sagte, no geh scho Mohrlerl, die Rolle der Tochter. Dann ermutigte sie sich und nahm einen Zug nach Wien. Schon nach drei Tagen wußte sie genug. Sie wollte weder in der Straßenbahn fahren noch auf den frisch gestrichenen Parkbänken am Heldenplatz sitzen. Immerhin waren die Schilder Für Juden verboten abmontiert worden. Hermina sah sie in den Kellerräumen der Hofburg lagern, bis sie wieder gebraucht würden. Auch am Prater hatte sie kein Vergnügen mehr. Nicht einmal zum Riesenradfahren hatte sie Lust. Die hinterfotzige Freundlichkeit der Leute widerte sie an. In der Wohnung der Kriegerwitwe wohnte jetzt eine junge Familie. Hermina fragte nicht weiter. Aber Tante Vera berichtete sie von rührenden Wiedersehensszenen und was diese sonst noch gerne hörte. Kein Wort über die Toten.

      Bei Tante Vera und Onkel Sepp trug Franz, der ein kräftiger, aber für sein Alter ungewöhnlich besonnener Junge war, Lederhosen und ein Filzhütchen. Für Hermina hatte die Tante ein Dirndl aus Seidenstoff gekauft und eine passende Brosche dazu. Es hatte kurze Ärmel und ließ die in Auschwitz eintätowierte Nummer sehen. Aber nach ihrer Wienreise ertrug Hermina den biedermeierlichen Haushalt ihrer Tante, wo das Dienstmädchen mit einer kleinen, weißen Spitzenschürze herumging, nicht mehr. Sie wollte nicht verwöhnt werden wie eine einzige Tochter, und auch das Angebot von Onkel Sepp, als Sekretärin im Geschäft mitzuarbeiten, lehnte sie ab. Wie hätte sie es erklären können? Sie hatte Anspruch auf Wiedergutmachungsgeld. Es half für den Anfang. Hermina ließ sich zur Krankengymnastin ausbilden. Sie zog mit Franz in eine Wohnung im Lehel, die zwei große, hohe Zimmer mit abgeblätterten Stuckdecken und eine Küche hatte, ein Bad gab es nicht. Die Toilette war für mehrere Wohnungen zusammen im Treppenhaus.

      Jahre später, als Hermina das beharrliche Gefühl des Neben-sich-selbst-Stehens nicht mehr aushalten konnte, vertraute sie sich einer Psychologin an, mit der sie sich angefreundet hatte. Bei ihr lernte sie mühsam, über das, was sie durchgemacht hatte, zu sprechen und über die Toten zu weinen.

      Franz

      Franz ist ein besonderer Junge. Aber das weiß nur er selbst, er läßt sich das nicht anmerken. Er hat schon über zwanzig Geheimnisse, die er alle ganz für sich behalten kann und die er in seinem Geheimbuch auflistet. Er hat sie in drei Gruppen unterteilt: Geheim, höchst geheim, geheim bis in den Tod. Geheim ist beispielsweise, daß er schneller als der Klassenlehrer rechnen kann, unter geheim bis in den Tod fällt der ungeöffnete Brief mit dem Absender Maxim Wisniewski, New York, USA, den er in seiner Schätzekiste aufbewahrt. Wenn Hermina die Post aus dem Briefkasten unten holt und ein Luftpostbrief dabei ist, seufzt sie schwer. Der Vater hat in Amerika eine lebenswichtige Aufgabe zu erledigen. Deshalb kann er nicht einmal zu Weihnachten kommen, so daß Franz und Hermina, damit sie nicht allein sind, bei Tante Vera und Onkel Sepp feiern, wo der Christbaum mit seiner silbernen Spitze bis zur Decke hoch reicht und wo es nach der Bescherung Gänsebraten gibt.

      Franz besitzt einen Cowboyhut, einen Gürtel, in dem zwei Colts stecken, und einen Sheriffstern. Wenn er die Sachen trägt, sieht er wie sein Vater aus. Der hat außerdem ein Lasso und zwei Pferde, auf denen er abwechselnd durch die Prärie reitet. Vom sonntäglichen Fernsehen bei Tante Vera weiß Franz genau, wie es auf der Ranch am Fuß der blauen Berge aussieht. Sein Vater ist der Freund eines großen Indianerhäuptlings. Wenn sich die beiden in der Prärie begegnen, zünden sie ein Lagerfeuer an, setzen sich nieder und rauchen die Friedenspfeife. Auch Franz besitzt eine Friedenspfeife, er hat sie von Onkel Sepp ausgeborgt, dem so viele Pfeifen gehören, daß der es gar nicht merkt, wenn einmal eine fehlt. Den Cowboyhut, die Colts, den Sheriffstern und die Friedenspfeife holt Franz jedoch nur dann aus seinem Schätzekoffer, wenn er allein zu Hause ist.

      Franz ist oft allein, weil Hermina im Krankenhaus arbeitet. Sie verdient dort Geld und hilft, kranke Leute gesund zu machen. Meistens kommt sie erst um sechs Uhr abends nach Hause. Er hat dann längst bei Frau Mumbauer unten gegessen und seine Schulaufgaben gemacht. Die sind immer ganz einfach, Franz bekommt die besten Noten, deshalb darf er schon jetzt nach Ostern, ein Jahr früher als üblich, ins Gymnasium wechseln. Wenn er fertig gerechnet und geschrieben hat, wartet er, bis Frau Mumbauer von ihrem Mittagsschlaf aufwacht. Um sich die Zeit zu verkürzen, liest er in den Büchern von Frau Mumbauers Mann, der Buchhändler war und letzten Sommer gestorben ist. Franz geht fast nie zum Spielen hinaus, er will weder anderen Kindern noch Bällen noch sonst etwas nachlaufen. Er wartet mit einem Buch am Küchentisch, bis Frau Mumbauer aus ihrem Schlafzimmer herauskommt und sich einen Kaffee aufbrüht. Dann fragt er, ob sie ihm den Schlüssel

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