Linda Haselwander. Irina Wittmer

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Linda Haselwander - Irina Wittmer

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mit all seinen Eigenschaften gehört, besitzt man auch einen bestimmten Charakter. Er ist der Panzer, der nach außen schützt und der zugleich unbeweglich macht. Man ist eingeklemmt zwischen Körper und Charakter. Linda konnte bezaubern, ein Machtgefühl beglückte sie, wenn sie spürte, daß sie andere für sich einnahm. Früh zeigte sich bei ihr eine Neigung, nicht eigentlich zur Theatralik, aber doch zu einer theatralischen Gestimmtheit. Sie hatte Distanz und war neugierig darauf, wie es weitergehen würde für sie.

      Mit der Frage nach dem Sinn aller Dinge wurde Linda selbst ihre Erwartungshaltung zunehmend bewußter. Wer eine Sechs würfelt, darf alle anderen überholen. Sie dachte, ihr würde ein Lebensauftrag zugeteilt oder wenigstens ein Zeichen gegeben, dem sie dann zu folgen hätte. Oft konnte sie nicht einschlafen, und sie sinnierte darüber, mit welchem Menschen sie bald ihr Leben teilen würde. Nur durch eine Heirat könnte sie das Elternhaus verlassen. Früh sah sie ihre Kindheit als etwas an, das abgeschlossen war, sie wollte nicht mehr Kind sein, immer sehnte sie sich fort. Wo lebt er jetzt, wie sieht er aus. Was tut er eben in diesem Augenblick, wo ich das denke? Sie glaubte an ein Paradies auf Erden und wollte sich auf die Suche danach machen.

      Nach den Osterferien, bevor Linda elf Jahre alt wurde, wechselte sie von der Volksschule zum Mädchengymnasium nach Bad Hohenbirch. Fräulein Jadow hatte sich dafür eingesetzt, und der Vater wurde nicht müde, nun von seiner »höheren Tochter« zu sprechen. Tagelang siezte er sie vor Begeisterung und fuhr sie morgens mit dem Auto zur Schule, denn wenn sie den Bus nahm, mußte sie schon um sechs Uhr aufstehen. Sie fing mit Latein an, und es war nicht so, daß ihr die Umstellung leicht fiel. Sie blieb während der ganzen Schulzeit eine mittelmäßige Schülerin, nur in Deutsch war sie immer die beste.

      Im gleichen Sommer kündigte der Geselle unerwartet, und für Linda, die ihr Bett noch immer im Schlafzimmer bei den Eltern stehen hatte, wurde das Mansardenzimmer renoviert. Bald waren die Wände mit Holz verschalt und weiß gestrichen, eine elektrische Heizung eingebaut und ein blauer Teppichboden gelegt. Als Überraschung hatte die Großmutter weiße Chippendale-Möbel bestellt. Außer dem Bett und dem Schrank auch eine Spiegelkommode. Unter das Gaubenfenster wurde ein zierlicher Schreibtisch gestellt. Zur Einweihung brachte Fräulein Jadow einen Plattenspieler. Den stellte Linda auf die mit Schnitzereien verzierte Truhe, die vorher bei den alten Schränken auf dem Speicher gestanden hatte. Linda freute sich sehr. Am liebsten hätte sie das stille, warme Zimmer nicht mehr verlassen.

      Malte

      Malte Olson wurde 1952 in Bremen geboren. Seine Mutter war Organistin und Klavierlehrerin, sein Vater begann, nachdem er schon einige Zeit als technischer Zeichner gearbeitet hatte, ein Ingenieur-Studium. Malte hatte drei Geschwister. Carsten, den um zwei Jahre älteren Bruder, Caren, die um ein Jahr jüngere Schwester, und Marie, die 1963 geboren wurde. Bis zu ihrem Umzug in den Schwarzwald, wo der Vater dann Leiter einer Kunststoffabrik wurde, lebte die Familie ziemlich beengt in einer Mietwohnung.

      Malte war ein bewegliches, lebensfrohes Kind. Für ihn gab es nur vollkommene Wachheit oder tiefen Schlaf. Er sang viel und laut und hüpfte und klatschte dazu im Rhythmus. Mit den Hausbesitzern in der darunter liegenden Wohnung gab es deshalb oft Ärger. Wenn er müde war, legte er sich irgendwohin und schlief sofort fest ein. Schon als Dreijähriger ging er nicht mit der ganzen Hand patschend auf das Klavier los, sondern drückte vorsichtig einzelne Tasten. Er lauschte, wie sich ein Ton ausdehnt und wie er nach und nach leiser wird, bis er ganz verklingt. Die Mutter freute sich darüber und spielte und sang oft mit ihm am Klavier. Carsten machte nicht mit, er wollte viel lieber ins Schwimmbad gehen, und Caren zog ihre Puppen vor.

      Als Malte fünf Jahre alt war, gab ihm die Mutter regelmäßig Klavierunterricht. Sonntags durfte er beim Gottesdienst, den sie begleitete, neben ihr an der Orgel sitzen. Nie dauerte ihm das lang genug. Außer der Musikalität fielen an dem Jungen besonders seine leuchtenden blauen Augen auf. Sie blickten wach und interessiert und in gewisser Weise zärtlich. Jeder behandelte Malte mit Respekt und eher wie einen Erwachsenen. Undenkbar, daß man ihn in einen Kindergarten geschickt hätte. Im Halbschlaf hörte er oft wunderbare Klänge. Er spielte. Er allein, aber sein Instrument war nicht nur ein Klavier, sondern außerdem ein ganzes Orchester, und er sehnte sich danach, was er gehört hatte, aufzuschreiben. Neben der Musik war ihm alles andere nebensächlich. Bald sagte er, daß er Pianist werden wolle. Er las schon gerne in Biographien berühmter Musiker, und er hatte seine Vorbilder. Manchmal war es schwierig zu unterscheiden, was von ihm selbst kam und was er imitierte.

      Mit acht Jahren beteiligte er sich zum ersten Mal an einem Wettbewerb am Konservatorium. Gleich bekam er den ersten Preis. Man wurde auf ihn aufmerksam, und er sollte im Theater mitmachen, als für ein modernes Stück ein Kind gesucht wurde, das auf der Bühne sicher Klavier spielen und Kraft und Konzentration eines frühreifen Genies darstellen konnte. Obwohl seine Mutter immer wieder betonte, sie halte nichts von Wunderkindallüren, ließ sie ihn mitmachen. Der Vater schüttelte nur den Kopf. Ihm wäre es lieber gewesen, daß Malte trotz seiner Begabung und seiner Neigung zum Extrem wie Caren und Carsten aufwuchs. Wurde in dem Jungen nicht ein Narr gezüchtet? Aber letzten Endes verstand der Vater ja nichts von Musik, und so schwieg er.

      Auf dem Programmheft des Theaters war dann dieses Photo: Ein Junge mit einer Mozartperücke sitzt in einen engen Frack gezwängt vor einem Konzertflügel. Seine Füße stehen auf einem Schemel, denn sie würden noch nicht bis auf den Boden reichen. Wie zu einem wilden Akkord hat der Junge beide Hände erhoben. Alles auf dem Bild wirkt übertrieben. Aber tatsächlich war das Stück an jedem Abend ausverkauft. Maltes Spiel rührte die Menschen.

      Nachdem Malte zehn Jahre alt war, verbrachte er die Sommerferien oft in Lübeck bei einer jüngeren Freundin seiner Mutter. Lioba Vengerowa wohnte außerhalb der Stadt in einem abgelegenen Haus, denn sie war Konzertpianistin und brauchte, wenn sie nicht auf Reisen war, einen Ort, an dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Aus ihrer Meisterklasse waren oft Schülerinnen und Schüler bei ihr. Sie sah wie eine Balletteuse aus und hatte eine große Liebe zu allem Indischen. Meistens trug sie weite, bunte Gewänder, sie mochte nichts, das einengte. Bei ihr mußte endlich auf niemand Rücksicht genommen werden, bei Lioba Vengerowa durfte Malte auch nachmittags zwischen eins und drei und sogar mitten in der Nacht Klavier spielen. Sie ließ ihm viel Freiheit, sie vertraute seiner Begabung und seiner Disziplin. Er mußte keine Anweisungen und keine Fingersätze in seine Notenbücher schreiben. Nichts von: Tu dies, tu jenes. Über ihren heimlichen Grundsatz, nur wer das Unmögliche verlangt, kann das Bestmögliche erreichen, sprach Lioba Vengerowa selten, vor allem mit ihren besten Schülern hatte sie Geduld. Sie konnte warten.

      Und Malte war mit sich selbst streng genug. Sein Ziel war das klare, ebenmäßige Spiel. Er war erst zufrieden, wenn jeder Ton scharf abgegrenzt vom anderen erklang. Manchmal war er penibler als seine Lehrerin. Im Haus von Lioba Vengerowa war es Maltes Gewohnheit, vormittags zwei Stunden lang aus dem wohltemperierten Klavier zu spielen. Danach konnte der Tag erst recht beginnen. Zwang er sich, ein Stück zu erarbeiten, das er nicht mochte, wurde ihm davon körperlich übel. Auf langen Spaziergängen analysierten sie alle Arten von Musik. Malte folgte seiner Lehrerin, die sich auch schon als Komponistin einen Namen gemacht hatte, in vielem. Sie beglückten einander mit ihrer Lust am Experimentieren. Skizzen, Improvisationen, glückliche Reminiszensen an das ganz Einfache, das doch so schwer zu machen ist. Wenn Lioba Vengerowa Chopin spielte, saß Malte stundenlang in sich versunken dabei. Ihr Spiel versetzte ihn in eine Abwesenheit, aus der er oft nur mühsam wieder zurückfand. Für ihn selbst blieb Chopin lange Zeit unspielbar, es war die Musik, die allein seiner verehrten und geliebten Lehrerin gehörte.

      So wuchs Malte Olson auf.

      Hermina

      Hermina wurde 1921 als Hermina Kavkowá in Wien geboren. Ihre Mutter kam aus einer großbürgerlichen Wiener Familie. Ihr Vater stammte aus Prag, wo seine Eltern ein Galanteriewarengeschäft betrieben. Nähseide, Bänder, Knöpfe, Unterwäsche, Kinderkleider. Sie hatten gespart, um dem Sohn sein Mathematikstudium zu ermöglichen. Kurz vor Herminas Geburt war er zum Professor an der Universität berufen worden. Als Hermina drei Jahre alt war,

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