Linda Haselwander. Irina Wittmer
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Er ist ein großer, kräftiger Junge, der so schwarze Augen und so schwarzes Haar hat wie keiner sonst in der Klasse. Auch seine Haut ist dunkler, selbst im Winter sieht sie wie eben gebräunt aus. Franz weiß, woher das kommt. Seine Mutter ist nämlich gar nicht seine richtige Mutter. Das hat er schon vor zwei Jahren unter geheim bis in den Tod notiert. Deshalb hat er vor einiger Zeit angefangen, sie Hermina statt wie vorher Mutti zu nennen. Zuerst hat sie gemeint, das sei doch keine gute Idee, aber jetzt hat sie sich daran gewöhnt, und es scheint ihr recht. Hermina ist eigentlich die Schwester seines Vaters. Um Franz vor den für ihre Grausamkeiten bekannten Komantschen zu schützen, hat Maxim seine Schwester, die sich niemals fürchtet, beauftragt, mit dem Kind nach Deutschland zu fliehen. Seine wirkliche Mutter ist eine Häuptlingstochter, die die Komantschen entführt haben. Maxim hat ewige Rache geschworen.
Franz schürt den Küchenherd, er stochert mit dem Schürhaken in der Glut, daß Funken aufsteigen. Er legt ein Brikett nach. Dann setzt er sich nach Indianerart auf den an den Herd gerückten Küchentisch und schaut in das Feuer und zieht an der kalten Pfeife, die einen widerlichen Geschmack im ganzen Mund macht. Er zwingt sich, solange wie möglich mit durchgestrecktem Rücken dazusitzen und seine Gedanken zu ordnen. Als Sohn der Häuptlingstochter ist er natürlich nicht katholisch wie die anderen in der Klasse, deshalb wird er auch kein Kommunionsfest feiern, obwohl das ein herber Verzicht für ihn ist, er hätte gerne ein Fest und Geschenke gehabt. Doch nur der Form halber besucht er überhaupt den Religionsunterricht, das hat Hermina so mit dem Lehrer besprochen. Tatsächlich haben sie jedoch eine ganz andere, eine viel bedeutendere Beziehung zu Gott. Das kann man leicht daran erkennen, daß Hermina eine Nummer an ihrem Arm stehen hat. Diese Nummer geht nicht weg, soviel Hermina auch badet und sich wäscht. Bevor Franz viel fragt, macht er sich lieber seine eigenen Gedanken, außerdem hat er die Bücher vom verstorbenen Herrn Mumbauer, in denen er manches nachlesen kann.
Einmal, schon länger her, als sie im Bad waren und nach dem Schwimmen in der Sonne lagen, rieb Franz mit dem Zeigefinger über die Nummer, er nahm auch Spucke, irgendwie, dachte er, dieser Stempel müsse unter dem Reiben doch verschwinden. Hermina hielt da in der Sonne die Augen geschlossen und machte ein ganz normales Gesicht. Aber schließlich sagte sie leise zu Franz, gib dir keine Mühe, das geht nicht weg, das ist die Telephonnummer zum lieben Gott.
Franz, da auf dem Küchentisch, tut bald der Rücken weh und die Knie, mit dem Schmerz kommt ihm die Haltung immer irgendwie lächerlich vor, überhaupt ist alles blöd. Er räumt die Sachen in die Schätzekiste zurück und macht ein paar Notizen in das Geheimbuch. Unter die Rubrik Briefe 1959 setzt er ein Kreuz, denn gestern hat Hermina, als sie von der Arbeit kam, einen Luftpostbrief mit hochgebracht. Nur sie besitzt einen Schlüssel zum Briefkasten. Noch im Mantel steckte sie sich eine Zigarette an, seufzte tief, setzte sich an den Küchentisch und las. Das dauerte nur eine halbe Minute, Franz schaute auf die Wanduhr, dann warf sie den Brief in den Herd.
Franz fragt nicht mehr. Wenn Hermina die Augen zusammenpreßt und die Hand so an den Hinterkopf legt, weiß er inzwischen, daß keine vernünftige Antwort kommt. Als er noch kleiner war, konnte sie ihm die tollsten Geschichten erzählen. Er ahnt jedoch, daß das Verbrennen des Briefes eine notwendige Vorsichtsmaßnahme sein wird, um den Sohn der schönen Häuptlingstochter vor den Komantschen zu schützen.
Nachdem Franz nichts mehr einfällt, das er in das Geheimbuch zu notieren hätte, nimmt er sich den ungeöffneten Brief mit dem Absender Maxim Wisniewskis wieder vor. Er kennt jeden Schnörkel der großen umständlichen und irgendwie schlecht zu lesenden Schrift. Obwohl sich Hermina vor nichts fürchtet, ist es doch Franz, der die Verantwortung trägt, das weiß er ganz genau, und eigentlich ist er auch kein Lügner. Es war nur so, daß er vorletzten Freitag, als die Schule erst um zehn Uhr anfing, vor dem Haus dem Briefträger begegnete. Der war eilig und überreichte im Vorbeigehen Franz den Brief, Post heute nur für euch, Bub, rief er, und Franz wurde es zuerst heiß, dann kalt und schwindlig, es war das erste Mal, daß er etwas, das direkt von seinem Vater kam, in den Händen hielt. Endlich wieder bei Besinnung steckte er den Brief in die Schulmappe, wo er ihn zwischen den Heften und Büchern ja leicht hätte vergessen können.
Nachmittags notierte er die New Yorker Adresse sorgfältig in sein Geheimbuch, denn natürlich hatte er schon oft über eine heimliche Reise nachgedacht. Ihm kam die Idee, Maxims Schrift nachzumachen. In den großen, umständlichen Buchstaben schrieb er Maxim Wisniewski, bis sich das, was im Geheimbuch stand, nicht mehr von dem auf dem Umschlag unterscheiden ließ. Als Hermina abends nach Hause kam, fragte sie nicht etwa, ist der Briefträger heute morgen eilig gewesen und hat im Vorübergehen gesagt, Post heute nur für euch, Bub. Sie war an diesem Tag sehr zufrieden, erzählte beim Essen lustige Geschichten, wie sie im Krankenhaus passieren, und bevor sie schlafen gingen, spielten sie noch zwei Runden Halma, bei denen er Hermina absichtlich gewinnen ließ. Nach ein paar Tagen dachte Franz, dem es natürlich mulmig war, es sei ja nun ganz undenkbar, Hermina den Brief noch zu geben oder ihn selbst in den Briefkasten unten zu stecken, weil sie gewiß merken würde, daß es ein alter Brief war, und nachforschen würde. Diese Schande könnte Franz nicht aushalten. Die einzige Möglichkeit, die er noch hatte, war, den Brief im Herd zu verbrennen.
Im Zimmer ist es schon düster geworden, Franz zittert ein wenig vor Kälte, der Küchenherd allein schafft es nicht, auch noch die beiden Zimmer zu heizen, die keine Öfen haben. Er schiebt die Schätzekiste unter sein Bett und geht in die Küche hinüber, den Brief nimmt er mit. Das Feuer brennt nicht gut, er zerknüllt Zeitung und stopft sie hinein. Wenn er den Brief verbrennt, so macht es ja keinen Unterschied, ob er ihn vorher geöffnet hat oder nicht. Von dem Brief wird nichts wirklich übrig bleiben, sondern nur das, was Franz im Kopf behält. Und es kann sein, daß eine lebenswichtige Botschaft darin steht, ohne die er und Hermina verloren sind. Als er die Stufen im Treppenhaus knarren hört, rennt er in sein Zimmer zurück und versteckt den Brief schnell unter der Matratze. Schließlich, halb unter das Bett gekrochen, ermutigt er sich. Es ist fast, wie er vermutet hat, trotzdem ist er enttäuscht. Der ganze Brief besteht aus Geheimschrift, jeder Buchstabe, pure Geheimschrift, so daß Franz nichts, gar nichts entziffern kann. Er steckt den Brief in die Schätzekiste zurück, tief unter die anderen Sachen.
Franz kennt Herminas unmögliche Chefin im Krankenhaus, und er weiß über den unverschämten Hausbesitzer Bescheid, der nichts renovieren läßt, aber dauernd mehr Miete will. Wenn Tante Vera wieder geseufzt hat, bei uns könntet ihr es so gut haben, heult Hermina oft schon auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn und dann noch den ganzen Abend lang, und Franz bringt ihr Kamillentee ans Bett und setzt sich daneben, bis sie aufhört zu zittern und einschläft. Immer sorgen sie füreinander. Sie hätte gerne, daß Franz häufiger hinausgeht, daß er Fußball spielt und Kameraden hat, statt dauernd über Büchern zu hocken. Der Schularzt hat gesagt, Franz sei zu dick, er brauche mehr Bewegung. Franz selbst hat nur ein einziges Problem, aber soviel er es im Kopf auch probiert, die Wörter kommen nicht heraus. Seit er nicht mehr klein ist, erzählt ihm Hermina keine wunderbaren Geschichten mehr über den Vater, daß es ihn überhaupt gibt, beweisen nur die Briefe. Er fragt Hermina auch dann nichts, als er in der neuen Klasse auf dem Gymnasium hört, wie ein Mitschüler einem anderen laut und so bedeutungsvoll zuflüstert: Juden sind immer die Klassenbesten.
Franz weiß vom Religionsunterricht, daß es in der Bibel um Juden geht. Aber sicherheitshalber schlägt er im Lexikon des verstorbenen Herrn Mumbauer nach, es riecht noch neu, ganz unbenutzt. Unter einem Bild, auf dem drei bärtige Männer mit Hüten gehen, steht: Orthodoxe Juden aus Munkatsch (Karpato-Ukraine) mit der übernommenen Tatarenkleidung (Talar und Fellmütze). Wie soll Franz das mit sich und seinen guten Noten in Verbindung bringen? Juden sind ein Rassengemisch vorderasiatischer und orientalischer Semiten. Und weiter unten: Die sagenhafte Vorgeschichte des Volkes Israel