Linda Haselwander. Irina Wittmer
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Linda kennt Jesus persönlich, er ist Gast an ihrem Tisch. Oft wenn sie allein da sitzt und essen soll, unterhält sie sich mit ihm. Sie sagt, Jesus, bitte hilf mir doch, daß der Teller endlich leer wird. Und manchmal hilft er wirklich. Linda sieht den lieben Gott, über den Himmel hingestreckt, er ist allgegenwärtig mit seinem Sündenbuch. Linda hört das Meer in der großen Muschel rauschen, die auf dem Radio in der Küche liegt. Linda spürt, wie der Nachtkrapp nach ihr greift, wenn sie in der Dämmerung noch draußen ist. Linda lebt gewiß mit ihren Träumen, und sie wartet auf den Auftrag, der ihr für das Leben zugeteilt wird. Aber für manches, was um sie herum passiert, hat sie keine Worte.
Wenn sie den Vater die Speichertreppe herunterkommen sieht, ist irgend etwas anders an ihm, und er verschwindet dann im Bad und patscht die Tür heftig hinter sich zu. Linda kann der Mutter nicht sagen, daß sie die Unterhose und die Strapse von der Hieberin gesehen hat. Oft wacht sie nachts durch heftige Geräusche auf, und dann wartet sie auf das Winseln da von den Betten der Eltern her, immer folgt den Geräuschen das Winseln, doch sie getraut sich nicht, die Mutter zu rufen, die wohl ganz fest schläft. Linda hütet sich vor der drängenden, feuchten Nähe ihres Vaters, sie will nicht auf den Mund geküßt werden.
Als die Mutter einmal wieder wochenlang in Erholung bleiben muß, kommt zur Aushilfe Else, ihre jüngste Schwester, ins Haus. Else ist flink und sauber, aber sie hat ein lockeres Mundwerk, sagt die Großmutter. Mit Else hat Linda viel Spaß, ihr darf sie beim Verkaufen helfen so oft sie will, und die Kundinnen stehen lange im Laden und erzählen. Als Linda die Großmutter dann mit der Neuigkeit überrascht, der Geselle sei ein Hundertfünfundsiebziger, schlägt diese sofort zu. Während Linda geschlagen wird und unter Tränen ruft, ich schäme mich, Großmutter, ich schäme mich wirklich, sieht sie das Bild, wie der Vater sein Auto poliert und stolz sagt, es hat zweiundfünfzig PS und fährt gut hundertdreißig. Aber die Großmutter ist außer sich vor Zorn und steckt Linda ins Bett, obwohl noch gar nicht Abend ist.
Am nächsten Tag beim Mittagessen sagt der Vater, wenn ich ausgeschlafen habe, zeige ich dir was. Er schläft ja immer, nachdem er in der Backstube fertig ist, weil er schon um vier Uhr früh aufstehen muß. Er sagt, es ist aber ein Geheimnis, nicht daß du der Else etwas erzählst oder der Großmutter, die hätte bestimmt viel dagegen. Du und ich, wir zwei, fahren zusammen fort. Linda treibt sich im Hof herum. Sie ist neugierig, sie denkt an ein Geschenk oder noch lieber daran, daß sie vielleicht die Mutter in ihrer Erholung besuchen. Galant läßt er Linda einsteigen. Er spricht nichts. Sie fahren nach Sulzmatten und halten vor dem Haus des Tierarztes, den die Großmutter ruft, wenn die Kuh Fieber hat. Der Doktor ist nicht da, aber seine Frau weiß Bescheid. Ihre Bernhardiner-Hündin hat Junge. Es sind sieben, und Linda ist die erste, die sich eines aussuchen darf.
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Als seine Tochter zur Welt kam, war Herrmann Haselwander dreiunddreißig Jahre alt. Er hatte Bäcker und Konditor gelernt und an der Ostfront gedient. Er verstand es, seine Nachteile in Vorteile zu verkehren. Obwohl das Geschäft abseits lag und im Winter sogar erst nach dem Schneeräumen erreichbar war, lief es doch besser als das der beiden Kollegen in der Hauptstraße. Zu Herrmann Haselwander ging man nicht wegen einem Laib Brot, sondern weil man Kirschstrudel oder Torte essen wollte. Bei ihm gab es ein klein wenig von dem Luxus, nach dem sich in den harten Zeiten alle sehnten. Auch die Fremden kamen gerne, sie kauften die Pralinen und Bonbonnieren, an denen Kärtchen steckten mit Motiven und der Aufschrift Herzliche Grüße aus Huwihl im Hochschwarzwald.
Eigentlich war Herrmann Haselwander kein richtiger Nazi gewesen, aber er vermißte doch die Ideale und die Ordnung, die sie dem Leben gegeben hatten. Die Kirche gehörte ins Weibliche, zum Schmuck, zum Beiwerk, er machte das Brimborium mit, weil es nicht anders ging, schon der Kundschaft und seiner Mutter wegen. Du sollst nicht töten? – Rüste dich, töte! Auch der Pfarrer hatte seinen Segen gegeben, darüber konnte Herrmann Haselwander nachträglich nur ausspucken. Niemand hatte einen Krieg gewollt, aber schließlich mußte gekämpft werden.
Manchmal, wenn seine Kameraden jetzt zum Skatdreschen heraufkamen, übte Herrmann Haselwander grinsend den Hitlergruß. Das sah zackig aus und verursachte bei allen automatisch ein herzhaftes Lachen. Mensch, Herrmann! Weil sie den Krieg verloren hatten, galt das für verboten, aber diese Tatsache verweigerte sich dem Kopf. Nicht das Glück, das Schicksal sollte sie bestimmen. Irgendwie war es Herrmann Haselwander, als könne morgen schon wieder alles ganz anders sein. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, sagte er gerne. Die Abenteuerlust und eine hündische Gehorsamslust verließen ihn nicht. Dein Wunsch ist mir Befehl. Auf viele Frauen hatte er eine enorme Wirkung. Seit er hinkte, mußte er sich etwas mehr Mühe geben als zuvor, aber er wurde selten enttäuscht.
Vor dem Krieg war er ein ehrgeiziger Schifahrer, ein knochenharter Sportler gewesen, gnadenlos mit sich selbst. Seine Urkunden und Medaillen schmückten die Schreibstube. Es war doch gerade ein paar Jahre her, als er sich noch im Turnverein an Reck und Barren beweisen konnte. Jetzt bezog er Invalidenrente, und alle drei Jahre hätten sie ihm eine Kur bezahlt, wenn er für eine Kur Zeit gehabt hätte. Wenn der Schmerz, der ihn immer quälte, unerträglich wurde, trank er Schnaps. Manchmal phantasierte er, er müsse ein ganzes Volk begatten, reihenweise, er allein. Was er tatsächlich leistete, war nur ein Bruchteil von dem, was er hätte leisten können.
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(1. Part)
Natürlich ist die Großmutter entsetzt, als Linda und ihr Vater mit dem Welpen nach Hause kommen. Sie schreit, den fahrt ihr sofort zurück. Ausgerechnet jetzt, wo die Schwiegertochter schon wieder ausfällt, ausgerechnet jetzt bringen sie zu allem Vergnügen noch einen Hund daher. Es ist Hochsommer. Der Stall, der Laden, die Fremdenzimmer, der Garten, die Wäsche. Zu ihrem Sohn sagt sie, ich glaube, jetzt bist du auch noch so verrückt geworden wie die. Das Viech kommt mir aus dem Haus. Lindas Augen gehen fort, aus der Küche hinaus, über die Landstraße bis ganz weit zum Meer, wo ihre Mutter in Erholung ist.
Plötzlich ist das Gesicht der Mutter dicht bei ihrem, sie kann den Atem spüren, ihre Mutter würde sie doch nie verlassen. Die Großmutter gibt ihr einen Stoß. Damit du wieder zu dir kommst, ich kenne dich ja nicht mehr, gerade hast du wie deine Mutter ausgesehen. Linda weint gleich. Das ist Betty, ich taufe sie Betty, Betty ist meine Schwester, sie ist mir das Liebste auf der Welt. Als sie Betty noch ein bißchen fester an sich drückt, pinkelt Betty los, daß es aus Lindas Rock auf den Küchenboden tropft. Der Vater grinst und verschwindet.
Die Großmutter läßt sich auf das Kanapee fallen. Fast ist es Linda, als weine die Großmutter auch, jedenfalls schnaubt sie heftig in ihr Taschentuch und sagt, ach Gott, ach Gott. Gleich hat Linda ein schlechtes Gewissen. Die Mutter schickt Ansichtskarten, vergiß deine Gebete nicht. Engeli chum, moch mi frumm. Sei schön brav, Linda. Obwohl Linda brav sein soll, plagt sie, bitte, bitte-bitte, Großmutter. Sie setzt das Hündchen auf den Boden und umarmt die Großmutter heftig, sie gibt ihr sogar einen Kuß. Schließlich richten sie zusammen für Betty im Stall ein Kinderzimmer ein. Linda schenkt Betty ihre Puppe mit den echten Haaren. Nachts schleicht sie sich aus dem Haus, was wegen der knarrenden Stufen ein Kunststück ist, und legt sich zu Betty ins Stroh. Von diesem Sommer an orientiert sich Linda mehr nach draußen. Zusammen mit Betty geht sie furchtlos durch den Wald bis zur Jägerhütte hinauf.
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Ab Ostern 1960 ging Linda zur Schule. Fräulein Jadow, ihre Lehrerin, war früher BDM-Führerin gewesen. Sie hatte rote Haare und das ganze Gesicht voller Sommersprossen. Obwohl sie von drüben kam, wußte man im Dorf recht gut Bescheid über ihre Vergangenheit. Fräulein Jadow galt als streng, aber gerecht, bei ihr, hieß es,