Operation Terra 2.0. Andrea Ross
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Für Aaron Rosenthal sollte die unselige AlienAffäre noch ein besonders unangenehmes Nachspiel haben. Seine überaus besorgten Eltern ließen ihn ein paar Wochen nach dem Vorfall psychiatrisch begutachten und legten anschließend größten Wert darauf, dass er Levi nicht mehr traf. Der Psychiater hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die psychische Störung wohl hauptsächlich durch dessen Suggestionen ausgelöst worden sei.
Terra, 27. November 2017 nach Christus, Montag
Solaras und Kalmes hatten ihre Anhörung bei einem Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ohne Probleme überstanden. Vorgebliche Syrer hatten es da vergleichsweise einfach. Eine begründete Furcht vor Verfolgung geltend zu machen, wenn man direkt aus einem Bürgerkriegsgebiet kommt, fällt naturgemäß relativ leicht.
Sie wohnten mittlerweile im Asylheim Freiberg in Sachsen. Heute erst war der schriftliche Bescheid über die Aufenthaltserlaubnis gekommen. Kalmes las ihn jubelnd vor. Sie durften in Deutschland bleiben.
Nun konnte es losgehen: Deutschkurs, Wohnung, Integrationsangebote und – last but not least – hatten sie endlich die Erlaubnis erhalten, sich auf dem Jobmarkt einen Arbeitsplatz zu suchen. Es ging mit Riesenschritten aufwärts. Bald schon würden sie selbstbestimmt leben und das antrainierte arabische Gehabe ablegen dürfen.
Kalmes freute sich schon darauf, sich bald in die fantasievollen terrestrischen Gewänder hüllen zu können. Selbstverständlich gedachte sie nach dem geplanten Umzug in eine eigene Wohnung nicht länger Kopftücher zu tragen, sondern sich in punkto Kleidung voll der deutschen Bevölkerung anzupassen. Die reiche Auswahl an Farben und Schnitten in den Bekleidungsgeschäften erschien ihr paradiesisch.
Zwischenzeitlich hatten die frisch gebackenen Asylanten gleichwohl bemerkt, dass in Deutschland auch nicht alles Gold war, was glänzte. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte sehr weit auseinander. Es gab Neid, Missgunst, Bürokratie, viel schlechte Laune und sogar islamistische Anschläge in diesem wunderhübschen Land voller grüner Wälder.
Die Tiberianer konnten beim besten Willen nicht verstehen, wieso sich manche ihrer Mitflüchtlinge intolerant und sogar gewalttätig verhielten. Es wurde geprügelt und vergewaltigt. Einige der Asylsuchenden sprengten sich gar als Selbstmordattentäter selber in die Luft, rissen unschuldige Zufallsopfer mit in den Tod. Aber hätten diese, zumeist jungen, Männer nicht froh und dankbar sein müssen, der lebensbedrohlichen Situation in ihrem Heimatland entronnen zu sein? Dass sie von der demokratischen Regierung dieses Landes, und das wohlgemerkt ohne jegliche Gegenleistung, neben Schutz ein Dach über dem Kopf, Essen und sogar ein wenig Taschengeld gestellt bekamen?
Als halbwegs verständliche Reaktion auf die vielen negativen Vorkommnisse mit Flüchtlingen schlugen den Freiberger Heimbewohnern Vorurteile und manchmal auch purer Hass der ortsansässigen Bevölkerung entgegen. Darunter hatten auch Solaras und Kalmes zu leiden. Scheele Blicke der Anwohner waren noch das Harmloseste, was sie erdulden mussten.
»Wenn ich daran denke, dass wir Tiberianer an diesen ganzen durch religiöse Ansichten verursachten Konflikten schuld sind, könnte ich wahnsinnig werden. Jesus hat kläglich versagt«, ging Solaras oft hart mit sich ins Gericht.
Kalmes pflegte ihn in solchen Phasen zu trösten. »Wir haben den Menschen auf Terra durch die Propheten Jesus von Nazareth und Mohammed nur das Angebot gemacht, sich an sinnvollen Wertvorstellungen zu orientieren. Pervertiert und ins Gegenteil verkehrt haben sie die Lehren selbst. Im Übrigen sind nicht alle Terraner schlecht. Dieser falsche Eindruck wird nur durch die einseitige, sehr negative Berichterstattung genährt. Wie kann man nur den Planeten, auf dem man lebt, in einem derart üblen Licht darstellen?«
Als Solaras sich sechs Monate später einen lange gehegten Herzenswunsch erfüllen und seine Kalmes ehelichen wollte, erlebte er auf dem Standesamt eine böse Überraschung. Man hatte das Paar in Passau versehentlich als Mutter und Sohn alHaruni registriert. Da die beiden keine Originalurkunden aus ihrem Heimatland vorweisen konnten, war es nicht möglich, diesen fatalen Irrtum aufzuklären. Ein Gentest verbot sich, denn der hätte das Paar sofort als mutmaßlich Außerirdische in die Schlagzeilen gebracht. Tiberianische DNS unterschied sich nun mal leider marginal von der terrestrischen. Auch ihre Blutgruppe war auf Terra inexistent.
So kam es, dass Solaras und Kalmes ihre Liebe im Verborgenen leben mussten. Aber sie gingen wenigstens gemeinsam durchs Leben, was auf ihrem Heimatplaneten völlig undenkbar gewesen wäre. Und das war es, was zählte.
Terra, 18. Dezember 2021 nach Christus, Samstag
eutschland gab den mittlerweile bestens integrierten Flüchtlingen von Tiberia immer noch einige Rätsel auf. Sie lebten nun schon seit drei Jahren in einer eigenen,
kleinen Sozialwohnung in KölnDeutz. Solaras arbeitete an der Kasse einer Großtankstelle Schicht. Kalmes war Küchenhilfe, schnippelte in Teilzeit Gemüse für ein angesagtes Restaurant nahe der Domplatte. Ab und zu half sie im Service aus.
Beide hatten die deutsche Gründlichkeit und Zuverlässigkeit schätzen gelernt, haderten jedoch mit ihrer beruflichen Unterforderung. Potentielle Arbeitgeber pochten auf Zeugnisse und Referenzen, sobald es um besser bezahlte Jobs ging, anstatt auf Lebenserfahrung oder probeweises Arbeiten zu setzen. Der Konkurrenzkampf unter den Bewerbern erschien gnadenlos. Alles in Deutschland war streng reguliert, fast wie auf ihrem Heimatplaneten, und die Tiberianer mussten sich wohl oder übel den Gegebenheiten beugen.
Besonders schwer fiel es Kalmes und Solaras naturgemäß, ihre Biografie glaubhaft darzustellen. Sie mussten eine berufliche Laufbahn in Syrien erfinden – ohne dafür Nachweise vorlegen zu können – und vor allem die lange Zeitspanne verschweigen, die sie auf dem fernen Tiberia zugebracht hatten.
Da blieb nichts übrig, was man als Berufserfahrung hätte ins Feld führen können. Der Sachbearbeiter im Jobcenter hatte für die hochmotivierten Flüchtlinge daher nur Billiglohnjobs auftreiben können, obwohl sie in Rekordzeit Deutsch gelernt hatten.
»Was ist, wollen wir jenen seltsamen Brauch mit den Weihnachtsbäumen heuer mitmachen? Ich finde den heimeligen Anblick so hübsch«, fragte Kalmes beim Frühstück an einem Samstagmorgen.
»Du willst einen Weihnachtsbaum … obwohl du weißt, dass der Kult um dieses Fest völliger Schwachsinn ist? Angeblich wird an Weihnachten meine Wiedergeburt auf Terra gefeiert und deswegen eine Geschenkeschlacht veranstaltet. Aber was bitte sollten Tannenbäume damit zu tun haben? Die gab und gibt es in Galiläa überhaupt nicht! Eine einzige Heuchelei ist das. Drei Tage lang Friede, Freude, Eierkuchen – obwohl es hinter den Festtagsfassaden gehörig brodelt. Und wieso feiert man das Fest im Dezember, wenn ich doch im März geboren bin?«
Kalmes musste lachen. Der Gedanke, dass man hier auf Terra in Wirklichkeit ihren außerirdischen Lebensgefährten feierte ohne zu ahnen, dass er gerade unter ihnen weilte, amüsierte sie. Jesus von Nazareth alias Solaras alias Raschid alHaruni oder Joshua Goldberg konnte wahrlich als multiple Persönlichkeit gelten.
»Ach, sieh das doch nicht so eng. Die Menschen biegen sich immer und überall alles so zusammen, wie sie es gebrauchen können. Da vermag man schon mal alte Bräuche mit neueren Religionen zu mixen. Es geht mir persönlich um die Optik, ich mag eben Bäume.«
»Na