Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader

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Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader

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Mal, dass er sie so erblickte. Regungslos verharrte die Frau einige Minuten in ihrer Stellung; ihr schwacher Geist schien sich mit Mühe von dem einmal erfassten Gegenstand abzuwenden, um zu einem anderen, Schmerz und Wut erregenden überzugehen. Endlich begann sie in abgebrochenen Worten, während Tränen den Blick umflorten:

      »Meinen Sohn Richard … sagen Sie? Ganz recht, ich habe einen Sohn … aber sein Vater ist tot … der arme junge Mann hat keinen Vater mehr … jener vornehme Herr hat ihn ermordet … sehen Sie, wie sein Degen blitzt? … Dort liegt mein Gatte in seinem Blut … sieh Richard … sieh … dein Vater ist tot … und ich trage die Schuld an seinem Tod … ja, ich … nur ich allein! O mein Gott, mein Gott!«

      Die Erinnerung an ihren Sohn hatte die Fesseln gesprengt, die den Geist der Armen umschlungen hielten; die Mutterliebe lichtete die Nacht des Wahnsinns und machte ihre allmächtige Kraft geltend. Laut schluchzend sank sie zu Boden, stützte ihren Kopf auf den neben ihr stehenden Stuhl und weinte still vor sich hin. Der Greis schüttelte schmerzlich bewegt sein kahles Haupt, indem er eine Träne im Auge zerdrückte; dann ging er, als ob er die Aufwallung seines Blutes verhindern wollte, einige Male im Zimmer auf und ab, während der Schmerz der Frau sich in Tränen ergoss.

      »O mein Gott«, unterbrach Frau Bertram nach einigen Minuten das Schweigen, »o mein Gott, gibt es denn keine Wiedervergeltung hier auf der Erde? Sind die Gesetze und ihre Strafen nur für die Armut gemacht? Jaja«, fügte sie schmerzlich hinzu, »auch die Vorsehung scheint die Großen dieser Erde zu bevorzugen, während sich bei den Kleinen das Vergehen furchtbar rächt, selbst wenn der Arm der weltlichen Gerechtigkeit sie nicht ereilt!«

      »Frau Bertram! Frau Bertram!«, rief der Greis warnend. »Was lässt Sie glauben …?«

      »Ja, ja«, rief die Frau, indem sie sich rasch erhob, »ich habe ihn wiedergesehen!«

      »Wen?«, fragte Herr Wilibald.

      »Den Mörder meines Gatten!«

      »Sie irren sich, liebe Nachbarin, oder ein Traum hat Ihnen sein Bild vorgeführt.«

      »Ich rede nicht im Irrsinn, mein alter Freund, nur wenn der Schmerz zu groß wird, wenn Not und Entbehrung den höchsten Gipfel erreichen, wenn ich sehen muss, wie mein armer Sohn seine Jugend in Elend vertrauert – dann umzieht ein blutiger Schleier meinen Blick und ich sehe nichts mehr von der Gegenwart, nur die Vergangenheit steigt vor meinem inneren Auge empor und mahnt mich, dass ich eine Unglückliche, eine Verbrecherin bin. Doch still, still, mein Sohn kommt! Hören Sie ihn nicht?«

      »Mut, Mut, Frau Bertram, es wird vielleicht noch alles gut. Beruhigen Sie sich, gehen Sie in Ihr Zimmer zurück und denken Sie nicht mehr an die Vergangenheit. Wo ist Ihr Sohn?«

      »Er ist schon früh ausgegangen, um Brot zu holen, denn wir haben gestern und heute noch nichts gegessen. Ich fürchte, er kommt mit leeren Händen zurück und wir müssen heute wieder fasten. Armer Richard!«

      Ein heftiges Schluchzen folgte diesen Worten und ein Tränenstrom entstürzte den Augen der armen Mutter. Plötzlich aber erhob sie sich, aus den Blicken strahlte wieder jener unheimliche Glanz und der Schmerz verwandelte sich in Wut.

      »Bösewicht! Bösewicht«, rief sie mit kreischender Stimme, »du trägst die Schuld an unserm Elend, du hast mit frecher Hand mein Glück zertrümmert! Du fährst in prächtigen Karossen, während ich mit meinem Sohn darbe! … Gestern kam ich bei einem Palast vorbei … da stand ein glänzender Wagen … ein Mann in Generalsuniform trat heraus und stieg ein … er war es, es war Ferdinand … ja, ja, ich erkannte ihn gleich wieder; doch er erkannte mich nicht, die arme Frau in dem zerlumpten Mantel war dem großen Herrn fremd. … Er stieg ein und der Wagen rollte dahin … ach, er war immer noch schön … schön wie damals … als er mir mein Glück und meinen Gatten raubte! … Heute ist Ball im Palast, wie ich einen Bedienten sagen hörte … ich komme, Ferdinand, um mit dir zu tanzen … ach, die prächtige Musik … wie sie durch den glänzenden Saal rauscht! La, la, la, la! Komm Ferdinand, komm!«

      »O mein Gott«, rief der Greis mit emporgehobenen Händen, »Sie sind krank, Frau Bertram! Ich werde Sie in Ihr Zimmer bringen, legen Sie sich zu Bett; sobald Richard zurückkehrt, wollen wir beraten, was zu tun ist, um Ihnen Pflege zu verschaffen. Ach, dass ich selbst so arm bin! Kommen Sie!«

      In diesem Augenblick ließ sich ein Klopfen an der Tür vernehmen.

      »Richard kommt!«, rief der alte Mann und öffnete hastig die Tür.

      Zwei Damen traten ein. Die ältere von ihnen, eine Matrone im vorgerückten Alter, einfach, aber sehr anständig gekleidet, reichte dem Greis freundlich lächelnd die Hand und grüßte in herzlichen Worten; die andere, ein blühend schönes, junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, in einem eleganten weißen Sommeranzug, war kaum eingetreten, als sie auch schon auf Frau Bertram zueilte und sich mit ihr teilnehmend beschäftigte.

      »Himmel«, rief sie erschrocken, »die arme Frau schüttelt ein heftiger Fieberfrost; man schicke nach einem Arzt! Und dieser Aufzug – was ist hier vorgegangen?«

      Der Greis winkte mit der Hand und gab durch Zeichen zu verstehen, dass er später Aufschluss erteilen würde.

      »Ich bin krank, sehr krank!«, stammelte Frau Bertram. »Wo ist mein Sohn? Ich muss wieder zu Bett!«

      Die unglückliche Frau schwankte zur Tür, um das Zimmer zu verlassen; da hörte man im Vorsaal die Stimme eines jungen Mannes rufen:

      »Mutter! Mutter! Wo ist meine Mutter?«

      »Richard«, rief die Mutter, indem sie das Zimmer verließ, »bist du endlich da? Führe mich, denn ich bin krank.«

      Am Arm des zurückgekehrten Sohnes, der sie an der Tür empfing, kehrte Frau Bertram in ihr Zimmer zurück. Tief bewegt standen der Greis und die beiden Damen da, als sich die Tür geschlossen hatte. Die jüngere von ihnen war ans Fenster getreten und trocknete mit einem weißen Batisttuch ihre Augen.

      »Herr Wilibald«, begann die ältere Dame nach einer Pause, »Sie haben schon das Bett verlassen; fühlen Sie sich auch ganz wohl? Ich fürchte, dass der Auftritt mit jener armen Frau nachteilige Folgen für Ihre Gesundheit herbeiführen kann. Sie scheinen bewegt zu sein?«

      »Ach«, sprach der Greis, »wie soll ich Ihnen Ihre Freundlichkeit, Ihre Großmut danken! Doch fürchten Sie nichts, ich bin, obwohl noch schwach, seit einigen Tagen völlig genesen. Frau Bertram, meine Nachbarin, hat mich so gut gepflegt, dass meine Krankheit nicht von langer Dauer war. Wie es scheint, werde ich jetzt meine Krankenwärterin pflegen müssen, denn ihr altes Übel, das sie seit einem Jahr verlassen hatte, ist zurückgekehrt. Die Kleider und die Blumen im Haar werden ihnen deutlich genug gesagt haben …«

      »Arme Frau!«, flüsterte das junge Mädchen leise vor sich hin.

      »Kennt man den Grund ihrer Geisteskrankheit?«

      »Vielleicht ist er in der Armut zu suchen, in der sie lebt«, fügte die junge Dame hinzu. »Wenn dies der Fall ist, wollen wir helfen!«

      »Ach nein«, entgegnete Wilibald, »die Krankheit hat einen andern Grund; die unglückliche Lage ist nur eine Folge dieser Krankheit, für die es, wie mir scheint, keine Arznei gibt; nur Gott allein vermag hier zu helfen!«

      »Wer ist denn diese arme Frau? Wissen Sie etwas von ihrem Schicksal, Herr Wilibald, o so teilen Sie es uns mit; vielleicht ist dennoch Hilfe möglich!«

      »Nehmen Sie Platz, meine Damen«, sprach der Greis, indem er die Holzstühle

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