Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader страница 5
»Nehmen Sie, Vater Wilibald«, flüsterte sie, »es ist für Sie, für die arme Frau und ihren Sohn!« Der Alte zögerte, die Börse zu nehmen.
»O so nehmen Sie doch«, bat sie unter Tränen; »wenn der junge Mann Arbeit erhalten hat, können Sie es mir zurückzahlen, ich leihe es Ihnen! Aber sagen Sie nicht, dass das Geld von mir kommt. Hören Sie, er darf es nicht erfahren!«
»O Gott«, rief Wilibald, »ich muss ja wohl, um uns vor Hunger zu schützen! Der Zustand, in dem Sie meine unglückliche Nachbarin trafen, ist eine Folge unserer traurigen Lage; sie hält sich für die Mörderin des Vaters ihres Sohnes und glaubt, wenn er noch lebte, würde das Los ihres Richard ein anderes gewesen sein. Ich sehe sie heute ebenfalls zum ersten Mal in diesem Zustand. Nun, Gott und gute Menschen werden ja helfen!«
»Und nun leben Sie wohl«, sprach die Matrone; »wir haben diesen Vormittag noch einige Besuche abzustatten. Anstatt einmal, werden wir jetzt zweimal in der Woche zu Ihnen kommen. Adieu, Herr Wilibald!«
»Ich komme morgen zurück«, flüsterte Anna dem Greis ins Ohr, »um von Ihnen zu erfahren, wie es der armen Frau geht. Lassen Sie es an nichts fehlen. Adieu, Herr Wilibald!«
Zehn Minuten später trat Herr Wilibald in Frau Bertrams Zimmer und legte lächelnd eine Handvoll Silbergeld auf den Tisch.
»Herr Wilibald!«, rief ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, als er bemerkte, was der Greis getan hatte.
»Wo ist Ihre Mutter, Richard?«, fragte dieser.
»Ich brachte sie in die Kammer auf ihr Bett, wo sie erschöpft eingeschlummert ist.«
»Gut, in einer Stunde komme ich wieder!«
»Herr Nachbar, ein Wort …!«
»Still, dass Ihre Mutter nicht erwacht! Sorgen Sie für die arme Frau und für mich, denn ich werde das Mittagessen bei Ihnen einnehmen, mein junger Freund.«
Mit den letzten Worten hatte der Alte das Zimmer wieder verlassen. Zehn Minuten später trat der junge Mann aus der finsteren Haustür auf die Straße, um die nötigen Einkäufe zu besorgen. Herr Wilibald hatte seine Tür verschlossen und sich wieder zur Arbeit an den Tisch gesetzt.
2.
Auf einem großen Platz der inneren Stadt erhob sich ein schönes, drei Stock hohes Haus, über dessen Haupteingang die Firma »Hubertus et Comp.« in mächtigen Buchstaben zu lesen war. Schon früh, wenn der Morgen dämmerte, öffneten sich dessen schwere Flügeltüren, um zahlreichen Arbeitern den Zutritt in den Hof zu gestatten, der die weitläufigen Fabrikgebäude des Herrn Hubertus umfasste. Einem Garten gleich war dieser freundliche Hof zu schauen, denn Beete mit duftenden Blumen und Gesträuchen, und Alleen von Schatten spendenden Linden- und Kastanienbäumen bildeten für den aus der grauen Häusermasse der Straßen Eintretenden einen lieblichen Kontrast, sodass er sich auf dem Lande wähnte. Diese Illusion wurde indes gestört, wenn man die Blicke zu der dem Haus entgegengesetzten Seite schweifen ließ, denn eine dunkle, von starken Strebepfeilern gestützte Steinmasse, riesengroß über die heiteren Fabrikgebäude emporragend, bot einen unerquicklichen Anblick dar. Es war das Staatsgefängnis, eine aus dem Mittelalter herstammende Burg, in der man Verbrecher, und namentlich politische, während ihrer Untersuchung in Haft hielt. Wie ein drohendes Gespenst lag das alte graue Gemäuer da, und wenn auch die an den kleinen ovalen Fensteröffnungen angebrachten Holzkästen, die den Gefangenen den Anblick der freien Luft entziehen sollten, seinen Zweck nicht sogleich verraten hätten, so erfüllte es den Beschauer dennoch mit einem unheimlichen Gefühl, dessen sich selbst der nicht erwehren konnte, der den Anblick nicht zum ersten Mal hatte. Auf den Gartenwegen gewahrte man jedoch nichts von diesem Grab lebender Menschen, wenn in der schönen Jahreszeit die Bäume und hohen Gesträuche ihr grünes Blätterdach ausspannten, und wohl mancher hat den Garten betreten, ohne die grausige Nachbarschaft auch nur geahnt zu haben.
Die Kontore und Lager des Fabrikherrn befanden sich im Erdgeschoss des geräumigen Vordergebäudes, das erste Stockwerk enthielt dessen Wohnzimmer und im zweiten befanden sich außer einigen Gästezimmern die der Domestiken.
Die Firma des Herrn Hubertus war eine der geachtetsten in der ganzen Stadt; mehr als hundert Arbeiter fanden unter seinem Dach fortwährende Beschäftigung und Lebensunterhalt, und seine Seidenfabrikate waren beliebt, weil sie gut und solide gearbeitet waren. Obgleich die Firma noch einen Kompagnon andeutete, so war Hubertus doch deren alleiniger Inhaber; er hatte sie beibehalten, wie er sie von seinem Vater geerbt hatte. Auch an ihm war die verhängnisvolle Zeit nicht erfolglos vorübergegangen; die allgemeine Stagnation des Handels und der Geschäfte, durch die Revolution aller Länder erzeugt, hatte ihn, den Kaufmann von echtem Schrot und Korn, veranlasst, Einschränkungen in seinem Geschäft vorzunehmen und teils die jüngeren Arbeiter zu entlassen, teils Kürzungen des Gehaltes eintreten zu lassen; Maßnahmen, die den ohnehin strengen Herrn bei seinen Arbeitern nicht beliebter machten, denn sie nahmen an, dass er von dem in guten Zeiten durch ihren Schweiß aufgehäuften Vermögen in der vorübergehenden schlechten nichts opfern wolle und dass nur der Geiz, nicht aber die Not der Zeit ihn zu diesem Schritt veranlasst habe. Diese Meinung war indes eine irrige; schon seit einigen Jahren hatte Hubertus durch Fallissements ausländischer Häuser nicht unbedeutende Verluste erlitten; die leidige Konkurrenz in neuester Zeit hatte ihn zur Herabsetzung der Fabrikpreise getrieben, und wenn er nicht schon längst zu einer Einschränkung seines Geschäftes geschritten war, so hatte ihn nur der Stolz, die Firma seines Vaters in dem bisherigen Glanz fortbestehen zu lassen, davon abgehalten.
Herr Hubertus war Witwer; seine Gattin ruhte schon seit fünf Jahren im Grab. In seiner Tochter Anna, einer blühenden Jungfrau von achtzehn Jahren, war ihm indes das Ebenbild seiner geliebten Hausfrau geblieben; auf sie hatte er alle seine Liebe übertragen, bei ihr fand er Trost und Erholung, wenn die stets welkende Blüte seines Geschäfts ihn missmutig gestimmt hatte, und nur sie war dann imstande, die Wolken von seiner Stirn zu verscheuchen und ihm Mut und Hoffnung auf die Zukunft einzuflößen.
Anna war in einer der ersten Pensionsanstalten der Hauptstadt erzogen worden; zwar ausgerüstet mit den nötigen Kenntnissen und Manieren, um sich in den Zirkeln der großen Welt bewegen zu können, hatte sie dennoch die schlichte und gerade Denkart einer einfachen Bürgerstochter bewahrt, und obwohl ihr liebenswürdiger Charakter durch die moderne Erziehung einen leichten Anstrich von romantischer Schwärmerei erhalten hatte, waren ihre religiösen Empfindungen dennoch rein und unverfälscht geblieben; ihre guten Vorsätze und Handlungen entsprangen stets ihrem unverfälschten Herzen; Koketterie, diesen mächtigen Hebel an Geist und Herz verbildeter junger Damen, kannte sie nicht. Ein köstlicher Maimorgen hatte sich zur Erde niedergesenkt. Rosen und Veilchen wetteiferten, den kleinen Park des Herrn Hubertus mit lieblichen Gerüchen zu füllen, und ein leichter angenehmer Morgenwind durchsäuselte das junge frische Grün an Gesträuchen und Bäumen. Die Fenster der den Park umgebenden Fabrikgebäude waren geöffnet und ein ununterbrochenes monotones Rauschen, das sich mit dem Flüstern des Morgenwindes mischte, gab Kunde von der Regsamkeit der Arbeiter. Die Fabrikuhr zeigte die zehnte Stunde an, als Anna, ein leichtes elegantes Strohhütchen auf dem Haupt, in einem weißen Kleid, mit einem kurzen schwarzseidenen Mantel darüber, aus dem Tor des Hauptgebäudes trat und leicht wie ein Reh durch die reinlichen Wege des Gartens hüpfte. Bei einem Rosenstock, dessen Knospen die Frühsonne halb erschlossen hatte, blieb sie stehen und bewunderte einige Minuten die Fülle der jungen Blumen, die mit der Zahl der Blätter wetteiferten; dann schlug sie den leichten Mantel zurück, trat einen Schritt in das Beet hinein und pflückte, ohne die zarte Hand von der engen Hülle des weißen Handschuhes zu befreien, einige der duftenden Blumen. Darauf trat sie in den Weg zurück, formte die Rosen durch einen silbernen Ring zu einem Strauß und schickte sich an, den Garten