Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader страница 4

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader

Скачать книгу

ist nun fast ein Jahr her«, begann der Greis, »dass ich diese Wohnung bezog. Frau Bertram und ihr Sohn bewohnten bereits das kleine Zimmer neben dem meinigen. Dass nichts leichter und inniger verbrüdert als das Unglück, ist eine Wahrheit, die sich auch hier bestätigte, denn schon nach einigen Wochen waren wir alte Bekannte; es verging kein Tag, der uns nicht beisammen sah, es genoss keiner eine frohe Stunde, die der andere nicht teilte. Richard, mit einem schönen Talent für die Dichtkunst begabt, fand damals bei einem hiesigen Buchhändler Beschäftigung, deren Ertrag ihn und seine Mutter vor Entbehrung schützte, und ich muss bekennen, dass auch mich der Hunger verschonte, wenn meine guten Nachbarn zu essen hatten. Nach einigen Monaten warf mich eine heftige Krankheit darnieder, und hatte ich in gesunden Tagen eine Stütze an Frau Bertram und ihrem Sohn gehabt, so fand ich sie in den Tagen des Unglücks doppelt in ihnen. Am Tag saß die Mutter an meinem Bett und nachts der Sohn, mit seinen Arbeiten beschäftigt. So verfloss der Herbst und ein Teil des Winters. Da erhob die Revolution ihr blutiges Haupt, alle Gewerbe stockten und auch Richard teilte das Los vieler Tausende – er hatte keine Arbeit mehr. An Ersparnisse war nicht zu denken gewesen, denn was die beiden Gesunden sich abgedarbt hatten, wurde von meiner Krankheit verschlungen.

      Mit dem Elend machte sich auch die Geisteskrankheit der armen Frau Betram wieder bemerkbar, die bis dahin still und in sich verschlossen gelebt hatte. Teilnehmend befragte ich sie nach ihrem Schicksal, als ich sie eines Tages in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer fand, und ich erfuhr Folgendes: Frau Bertram ist die Tochter eines Kaufmanns in P., den die Welt für reicher hielt, als er wirklich war. Ein achtbarer Beamteter, mit einem anständigen Gehalt, bewarb sich um das junge Mädchen, und nur dem Drang der Eltern und nicht dem des Herzens folgend, reichte sie dem Mann, fast gegen ihre Neigung, am Altar die Hand. Kaum ein Jahr nach ihrer Verheiratung erklärte sich der Grund, aus dem der Vater sein Kind zu dieser Ehe gezwungen hatte: Er fallierte und hatte zuvor noch die Zukunft seines einzigen Kindes sichern wollen. Die Mutter brachte Gram und Kummer in die Grube und den Vater die Hartherzigkeit seiner Gläubiger in das Schuldgefängnis, wo auch er bald darauf starb. Jetzt stand die Tochter allein in der Welt, gekettet an einen Mann, den sie nicht liebte, der denselben trockenen Geschäftsgang in seinem Hauswesen eingeführt hatte wie in seinem Büro. Dieser eingefleischte Bürokrat behandelte seine Gattin, in deren Mitgift er sich gewaltig getäuscht hatte, nicht anders als seinen Schreiber; das geringste Versehen im Gang des Haushalts zog der armen jungen Frau eine demütigende Behandlung zu. Obgleich der Himmel ihre Ehe mit einem Knaben segnete, änderte sich dennoch das kalte, herzlose Betragen des Vaters nicht; die junge Mutter, immer mehr das Unglück ihrer Lage erkennend und fühlend, saß weinend an der Wiege des kleinen Richard, des einzigen Wesens, an dem ihr Herz mit Liebe hing. In dieser Zeit war es, als Herr Bertram von P. versetzt wurde, das heißt, er bekam eine einträglichere Stelle im Polizeibüro der Residenz. Er reiste ab, ließ aber Frau und Kind in P. zurück, um an dem Ort seines neuen Aufenthalts alles zu ihrem Empfang vorzubereiten. Es verging eine geraume Zeit, ehe die junge Frau Nachricht von ihrem Gatten empfing, und selbst als der angekommene Brief ihr ankündigte, dass der Tag der Abreise noch nicht festgesetzt werden könne, fühlte sich Madam Bertram über diese neue Vernachlässigung nicht gekränkt, wie sich wohl denken lässt, denn sie konnte ungestört für die Pflege ihres Kindes leben. Das Verhältnis unter den beiden Gatten konnte ihren näheren Bekannten kein Geheimnis bleiben, und ein junger Mann, Ferdinand von B., der die hübsche junge Frau schon längst mit neidischen Augen betrachtet hatte, benutzte dieses Verhältnis und die Abwesenheit des Herrn Bertram, um sich ihr bemerkbar zu machen. An Gelegenheit dazu fehlte es ihm nicht, da er ein Bekannter des abwesenden Gatten war und dessen Haus schon oft betreten hatte. Anfangs waren die Aufmerksamkeiten Ferdinands der jungen Frau nicht unangenehm, später, als sie Vergleiche zwischen ihm und ihrem groben Gatten anstellte, sah sie ihn gern, bis sich endlich die Liebe, die ihr bis jetzt fremd gewesen war, ihres Herzens bemächtigte. Je weniger sich Herr Bertram um seine Frau kümmerte, desto mehr tat es Ferdinand; er schwor ihr, sie von dem Tyrannen zu befreien und neue Ehebande mit ihr zu knüpfen. Herr Ferdinand war ein schöner Mann und seine Schwüre fanden Gehör. Es verflossen wohl zwei Jahre, und Madam Bertram, die nur noch von Ferdinand abhing, der ihr vorgespiegelt hatte, die Scheidung mit ihrem Gatten sei bereits beantragt und würde demnächst erfolgen, wurde abermals durch einen Knaben erfreut. Kaum war sie genesen, als eines Tages plötzlich ihr Gemahl, der Kunde von dem Vorfall erhalten hatte, in ihr Zimmer trat und Ferdinand von B. antraf. Nach einem kurzen Wortwechsel zog Herr Bertram zwei Degen unter seinem Mantel hervor; der Kampf begann im Zimmer der jungen Frau, und noch ehe diese dazwischentreten konnte, lag ihr Gatte in seinem Blut. Des Gegners Klinge hatte ihm das Herz durchstoßen. Noch denselben Abend fuhr ein Reisewagen aus dem Tor. Die junge Witwe mit ihren beiden Kindern und Ferdinand saßen darin. Das Ziel der Reise war Triest. Hier schied Ferdinand von seiner Geliebten, nachdem er ihr ein bedeutendes Kapital in Banknoten überreicht hatte, mit dem Versprechen, bald zurückzukehren. Das beträchtliche Kapital erweckte zuerst den Verdacht der jungen Frau. Wie konnte ein einfacher Mann, der auf eine Staatsanstellung hoffte, – dies hatte Ferdinand ihr gegenüber erwähnt – über eine solche Summe disponieren? Und warum gab er ihr im Augenblick des Scheidens diese Summe? Um ihre Existenz auf Wochen, selbst auf Monate zu fristen, wäre der zwanzigste Teil hinreichend gewesen. Unter banger Erwartung verging die Zeit; der versprochene Tag von Ferdinands Ankunft erschien, der Ersehnte aber blieb aus. So vergingen fünf Jahre und eine stille Schwermut hatte sich der Verlassenen bemächtigt; sie hörte weder von den Folgen des unglücklichen Duells noch von dessen Urheber. Ein einfaches, sparsames Leben hatte nur einen geringen Teil ihres Kapitals in Anspruch genommen; mit dem übrigen verließ sie Triest und zog in die Residenz, teils, um ihren Kindern eine gute Erziehung geben zu lassen, teils, weil sie hoffte, hier etwas von ihrem treulosen Verführer zu erfahren. Nachdem auch hier wieder zwei Jahre verflossen waren, gab sie alle Hoffnung auf, den Vater ihres zweiten Sohnes, der zu einem hübschen, munteren Knaben von sieben Jahren herangewachsen war, jemals wiederzusehen. Richard zählte neun Jahre und besuchte bereits die unteren Klassen eines Gymnasiums. An einem schönen Herbsttag ging Frau Bertram, ihren jüngsten Sohn an der Hand, durch eine der Hauptstraßen der Residenz. Plötzlich fährt ein offener, prachtvoller Wagen, in dem ein hoher Stabsoffizier saß, an ihr vorbei. Sie blickt hin und stürzt mit dem Ausruf: ›Ferdinand‹ den Pferden in die Zügel, um ihren Lauf zu hemmen. Der Kutscher hält an, die unglückliche Frau aber, von einem Stoß der Deichsel getroffen, lag ohnmächtig am Boden. In einem kleinen Krämerladen, der sich in der Nähe befand, schlug sie nach einer Viertelstunde wieder die Augen auf; die prächtige Karosse und ihr Sohn aber waren verschwunden. Aus einem Taschenbuch, das sie bei sich trug, erfuhr man ihre Wohnung, wohin sie mitleidige Menschen in einem Wagen schaffen ließen. Der Verlust des Knaben und die durch den Wagen erlittene Verletzung raubten der armen Mutter den Gebrauch ihres Verstandes; eine alte Dienerin leitete das Hauswesen und Richard blieb der Obhut seiner Lehrer überlassen. Das Kapital wurde mit jedem Jahr geringer und war gänzlich zusammengeschmolzen, ehe der junge Mann seine Studien auf der Universität beendet hatte; er musste abgehen, um durch Arbeiten seine Mutter, deren Geisteskrankheit die Zeit gemildert zu haben schien, zu ernähren. Diese Wohnung, in der Hunger und Elend ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, ist das Resultat seines Mühens, Verzweiflung der Lohn seiner treuen Arbeit.«

      Der Greis schwieg einen Augenblick und trocknete eine Träne, die ihm über die bleiche, gefurchte Wange rann. Die jüngere der beiden Damen vermochte kaum ihre Fassung zu behaupten; ihr Taschentuch am Mund, hatte sie sich still weinend abgewendet.

      »Aber wovon lebten die beiden armen Leute, als es an Arbeit fehlte?«, fragte die ältere Dame.

      »Wovon sie lebten?«, antwortete der alte Wilibald verlegen. »Je nun, sie mussten zufrieden sein – ich teilte mit ihnen, was ich Ihrer Großmut verdanke. Ja, meine lieben, guten Damen, Ihre Spenden haben drei Menschen erhalten! War es nicht meine Pflicht, mit denen zu teilen, die so lange mit mir geteilt haben? Nicht wahr, Sie sind mir deshalb nicht böse?«

      »O ja«, antwortete das junge Mädchen eifrig, »ich bin Ihnen recht böse, Herr Wilibald. Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Ihren Nachbarn auch Hilfe nottut? Sie wissen ja, dass wir einem Verein angehören, der sich die Unterstützung Hilfsbedürftiger zur Pflicht gemacht hat.«

      »Beruhigen Sie sich, liebe Anna«, sprach

Скачать книгу