Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Группа авторов
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Die zahlenmäßig bedeutendste saisonale Wanderungsbewegung machten jene aus, die sich in der Landwirtschaft verdingten – zumindest bis um 1800. Die Auswirkungen des Erbrechts auf die Bodenbesitzstrukturen waren dabei ein wesentlicher Faktor. War Grund und Boden stark aufgesplittert, wie in Gebieten mit Realteilung, etwa dem Tiroler Oberland, begünstigte das saisonale Migration. Aus diesen Regionen zogen die Menschen nicht selten in solche, in denen konzentriertere Besitzstrukturen saisonale Helfer*innen in der Landwirtschaft erforderlich machten, um dort ihr Geld zu verdienen. Die Poebene bzw. Oberitalien oder auch Süddeutschland waren zum Beispiel Ziele solcher Wanderungsbewegungen, aber auch im Tiroler Pustertal waren große Höfe im Sommer auf Hilfskräfte angewiesen.39 Auch die saisonale Migration von Kindern aus dem Tiroler Oberland, die bis ins 20. Jahrhundert hinein vorkam, ist hier zu erwähnen. Als „Schwabenkinder“ fanden sie nicht nur Eingang in die Forschungsliteratur,40 sondern auch in die Populärkultur.41
Neben jenen, die ihre Arbeitskraft zu Markte trugen, zogen – verstärkt ab dem 18. Jahrhundert – außerdem Tausende über die Landesgrenzen hinaus, um mit unterschiedlichsten Produkten Handel zu treiben. Stubaier Metallwaren, Grödner Schnitzwaren, Deferegger Teppiche und Decken oder Handschuhe aus dem Zillertal wurden in weite Teile Europas exportiert, Oberinntaler Vogelhändler*innen, Ölträger*innen sowie Wein- und Südfrüchtehändler*innen und viele andere mehr betrieben ihre Geschäfte oft auch im Ausland.42 Dies konnte in Form eines einfachen Hausierhandels durch einzelne Kraxenträger geschehen oder auch deutlich professionalisierter durch Handelsgesellschaften mit mehreren Teilhabern.43
Abb. 6: Gerade in und um Imst waren Vogelhandel und Vogelzucht eine Einkommensquelle. Kupferstich von Johann Ernst Mansfeld nach einer Zeichnung von Johann Christian Brand, 1798
Ziel- und Ausgangspunkt zugleich war die Region auch für weitere Formen von Mobilität als Arbeitsmigration: die Touren von Handwerksgesellen etwa44 oder die Wanderbzw. Lehrjahre des männlichen Nachwuchses der ländlichen Eliten.45 In den Quellen finden sich neben diesen bekannten Migrationsmustern jedoch mitunter auch Hinweise auf ungewöhnliche Karrieren, wie etwa die der aus Silz stammenden Wundarzt-Tochter Therese Stockerin, die 1802 „zu Warschau in Königreich Pohlen als Kammerjungfer“ tätig war.46 All diese Erscheinungsformen von Migration bzw. Mobilität, die aus Tirol hinausführte, können an dieser Stelle jedoch nicht eingehender behandelt werden.
Wie viele Tiroler*innen – es waren vorrangig Männer – auf diese Weise außer Landes unterwegs waren, ist unklar. Eine Schätzung für das 18. Jahrhundert geht von rund 30.000 aus, eine Erhebung in den Jahren 1811/1812 zählte 27.800 (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 700.000 Personen). Wesentlich ist, dass die beschriebene saisonale Mobilität keineswegs ohne Weiteres immer als Folge von Überpopulation und ungenügenden Erträgen aus der Landwirtschaft sowie einer allgemeinen wirtschaftlichen Krise zu interpretieren ist: „Die Subsistenzsicherung durch Mehrberufigkeit stellte […] den ‚Normalzustand‘ dar“, und vor allem hinsichtlich des Wander- bzw. Hausierhandels mit heimgewerblich gefertigten Produkten, dessen Bedeutung im 18. Jahrhundert anwuchs, erklärt Ammerer, dass diese Wanderungen durchaus als „Karrieremöglichkeiten bzw. Chancen für ein ‚besseres Leben‘“ betrachtet wurden.47
„Tyroler“ und „Tyrolerin“ im frühneuzeitlichen Europa
„Da in großer Anzahl vor allem Männer […] auf Handelswanderschaft gingen, waren neben den Savoyarden die Tiroler schon den Zeitgenossen weithin ein Begriff“,48 so Gerhard Ammerer.49 Die Eindrücke, die Tiroler*innen auf ihren Reisen hinterließen, fanden als Stereotype auch Eingang in die Literatur.50 Eines der wohl bekanntesten Beispiele in dieser Hinsicht ist Heinrich Heines bissiger Kommentar über die Tiroler*innen, der ganz selbstverständlich voraussetzte, dass seine Leser*innenschaft „diese bunten Deckenverkäufer, diese muntern Tiroler Bua, die wir in ihrem Nationalkostüm herumwandern sehen“, kannte.51
Diese Stereotype wurden von Tiroler Händler*innen und Dienstleister*innen auch selbst zu Vermarktungszwecken aufgegriffen. Sie antizipierten gewisse Erwartungshaltungen ihres Publikums, wie z. B. aus einer zeitgenössischen Replik auf den Spott Heines hervorgeht.52 Dieser wiederum ortete bereits 1828 den kommerziellen Ausverkauf tirolerischer Eigenarten im Ausland und führte dabei die bekannte Zillertaler Sängerfamilie Rainer, die mit ihren Auftritten in Deutschland, England und sogar Nordamerika Tirol weithin bekannt machte, als Beispiel an.53 Ganz ähnlich inszenierte Felix Mitterer Ende des 20. Jahrhunderts einen Zillertaler Wanderhändler des ausgehenden 18. Jahrhunderts: In seinem Stück „Das wunderbare Schicksal“ erblickte er im Handschuhhändler
Abb. 7: Ein mobiler Teppichhändler um 1775, hier auf einem etwas jüngeren colorierten Nachdruck aus Johann Christian Brands Sammlung von „Zeichnungen nach dem gemeinen Volke besonders Der Kaufruf in Wien“ Peter Prosch, der als „Hoftyroler“ im süddeutschen Raum bekannt war und 1789 seine Lebenserinnerungen veröffentlichte,54 „den ersten Fremdenverkehrstiroler“.55
Schlussbemerkung
Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, einen knappen Überblick über einen als Migrations- bzw. Mobilitätsgeschichte Tirols in der Frühen Neuzeit nur überaus grob umrissenen Themenkomplex zu vermitteln. Einzelaspekte konnten dabei lediglich gestreift werden. Offensichtlich wurde dennoch, dass es sich um ein vielfältiges und keineswegs randständiges Thema handelt. Das historische Tirol fungierte sowohl als Destination als auch als Ausgangsregion für unterschiedlich motivierte Wanderungsbewegungen, die in verschiedenen Quellen ihren Niederschlag fanden. Die Berücksichtigung dieser beiden Perspektiven erscheint zentral für die Migrationsgeschichte einer Region. Die sicherheitspolizeilichen Maßregeln und wirtschaftlichen Bedenken gegenüber äußeren Einflüssen werden durch den Eindruck einer überaus mobilen Gesellschaft konterkariert. Tiroler Migrant*innen, die in ganz Europa spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bekanntheit erlangten, waren wesentlich an der Konstruktion eines Bildes von Tirol als romantisiertem Sehnsuchtsort im 19. Jahrhundert beteiligt, das bis heute nachhallt.