Lesereise Hongkong. Rasso Knoller
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Hongkong ist die Feng-Shui-Hauptstadt der Welt
Platz ist in Hongkong ein teures Gut. Deswegen wundere ich mich, warum in dem Wohnhochhaus an der Repulse Bay auf halber Höhe ein riesiges »Loch« in dem Gebäudekörper gelassen wurde. Hier hat der Bauherr auf die Einnahme aus der Vermietung oder dem Verkauf von bestimmt fünfzig Wohnungen verzichtet. »Das hat der Feng-Shui-Meister empfohlen«, erklärt mir ein älterer Herr, der mir unten an der Strandpromenade zufällig begegnet. Er sagt, dass durch das Loch der Drache, der auf dem Berg hinter dem Wolkenkratzer wohnt, zum Trinken und Baden hinunter zum Strand fliegen kann. Der Alte klingt nicht, als machte er Witze, der freie Flugweg des Drachen liegt ihm tatsächlich am Herzen. Wie für die meisten Hongkonger ist auch für ihn Feng Shui nicht irgendein Aberglaube, sondern der Weg zu einem glücklichen und erfolgreichen Leben.
Dass die Drachen zufrieden sind, ist umso wichtiger, als sie als Boten des Glücks gelten, mit denen man es sich auf keinen Fall verderben will. Deswegen ist das Wohnhaus an der Repulse Bay auch nur eines von vielen mit einem solchen Flugloch. Wer mit offenen Augen durch die ehemalige britische Kronkolonie geht, wird Dutzende Hochhäuser mit »Loch« entdecken. Die Bauherren waren hier besonders weitsichtig, verzichteten sie doch auf kurzfristigen finanziellen Gewinn durch ein paar zusätzliche Wohnungen oder mehr Bürofläche und tauschten ihn für lang währendes Glück für ihr Bauwerk ein. Selbst wer nicht an Feng Shui glaubt, beachtet zumeist seine Regeln. So kann man Wohnungen oder Häuser einfach teurer verkaufen. Grundregeln wie die, dem Drachen freien Flug zu gewähren, kennt jeder – die Feinheiten wissen aber nur die Spezialisten. Und deswegen befragt man auch Feng-Shui-Meister, bevor man die Maurer bestellt. Sie geben dann Ratschläge, wie das Haus aussehen muss, damit seine Bewohner mit der Umgebung in Harmonie leben können. »Die Geister der Luft und des Wassers sollen im Einklang mit dem Menschen leben«, sagt der alte Herr und hat damit gleichzeitig schon die Wortbedeutung von Feng Shui übersetzt.
Auch wer eine Megamall oder ein Bankhochhaus plant, befragt vorher einen Feng-Shui-Experten. Und deren Empfehlung wird dann ohne Wenn und Aber umgesetzt. Das musste auch Stararchitekt Sir Norman Foster erfahren, der sich beim Bau der HSBC-Bank erst einmal gegen die Ratschläge des Feng-Shui-Meisters aufgelehnt hatte. Der hatte nämlich dringend empfohlen, die Rolltreppen im Gebäude nicht nebeneinander einzubauen, sondern in einem bestimmten, für die Harmonie des Gebäudes besonders günstigen Winkel. Foster fühlte sich – als einer der bekanntesten Architekten weltweit – an die Vorgaben nicht gebunden und baute, wie er es für richtig hielt. Sehr zum Zorn des Feng-Shui-Meisters und seiner Auftraggeber. Die ordneten umgehend aufwendige Umbauarbeiten an – die Rolltreppen wurden schließlich versetzt, und zwar dorthin, wo sie der Feng-Shui-Meister von Anfang an hatte haben wollen. Auch den Eingangsbereich der Bank baute man so, wie es der Feng-Shui-Meister angeordnet hatte. Einem Strand sollte die Lobby nachempfunden sein. Warum? Ganz klar, weil das Wasser an den Strand spült, und analog Geld in die Kassen der Bank gespült wird.
Die vielen Statuen, die in Hongkong vor den Gebäuden stehen, sind nicht nur als Schmuck gedacht. Auch sie werden nach den Kriterien des Feng Shui platziert. Die zwei Löwen vor dem Eingang der HSBC-Bank beispielsweise stehen nicht irgendwo, sondern genau da, wo sie der Feng-Shui-Meister haben wollte – und nur deswegen können sie auch Glücksbringer sein. So mancher Hongkonger streichelt den beiden beim Vorbeigehen über die Pfoten und die Schnauze und erhofft sich dadurch die Vermehrung seines Reichtums. Paare, die die Löwen gleichzeitig tätscheln, dürfen darauf hoffen, dass das Glück in ihrer Beziehung zunimmt.
In Hongkong gibt es aber auch »böse Gebäude« – Hochhäuser, die vor schlechtem Karma nur so strotzen. Der Wolkenkratzer der Bank of China ist beziehungsweise war lange Zeit so ein Beispiel. Sein Architekt I.M. Pei – auch er einer der Großen seines Faches – hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und eine Fassade mit vielen überstehenden Ecken konstruiert. Die aber symbolisieren Messer, die das Glück der umliegenden Häuser zerstechen. Die Nachbarn waren empört, und nach Eröffnung des Gebäudes wurden die Proteste so stark, dass sich der Bauherr zu Gegenmaßnahmen gezwungen sah. Doch die gingen erst mal gehörig schief. Man ließ hinter dem Gebäude ein paar Brunnen aufstellen – prinzipiell ist das eine gute Sache, denn das Wasser schwächt den Effekt der scharfen Kanten ab. Diese Brunnen standen aber an der falschen Stelle. Da waren sie nicht nur völlig nutzlos, sondern, schlimmer noch, sie schwächten Männlichkeit und Dominanz – nichts, was sich Bankchefs für erfolgreiche Geschäfte wünschen. Da half es vermutlich auch nicht, dass die meisten Manager ihre Büros in der nordwestlichen Ecke des Gebäudes hatten, dort wo das Yang, die männliche Energie, gestärkt wird.
In der Nähe der Bank of China waren besonders das Government House und das amerikanische Konsulat von deren glückstötender Wirkung betroffen. Die Mitarbeiter des Konsulats griffen eilends zur Selbsthilfe und stellten Spiegel in die Fenster. So wurde die negative Energie zurückgestrahlt. Nicht ganz so vorsichtig scheint man in einem benachbarten Einkaufszentrum gewesen zu sein. Das ging nämlich kurz nachdem das Bankhochhaus 1990 eröffnet wurde in Konkurs. Das Government House blieb gleich ganz unbewohnt. Tung Chee-hwa, der von China berufene erste Chief Executive der Sonderverwaltungszone Hongkong, spürte das schlechte Feng Shui und weigerte sich, in dem Haus zu arbeiten.
Inzwischen haben aber die Feng-Shui-Meister ganze Arbeit geleistet. Die Brunnen stehen jetzt an der richtigen Stelle. Und auch im Government House kann man wieder wohnen. Dort hat man im Garten einen Fischteich angelegt, und der saugt die negative Energie auf. Und die HSBC-Bank hat ihre Abwehr gegen das schlechte Feng Shui ihres Konkurrenten gestärkt. Auf dem Dach des hundertneunundsiebzig Meter hohen Gebäudes brachte man zwei waagrechte Pfeiler an, die in Richtung Bank of China zeigen. Damit wird die von dort ausgesandte negative Energie wieder zurückgeleitet. Manchmal nützen schon kleine Dinge, um großen Schaden abzuwenden und dem Glück auf die Sprünge zu helfen: ein Brunnen, ein Fischteich oder auch eine Münze, die man an der richtigen Stelle unter einen Teppich legt – Letzteres hilft, um zu Reichtum zu kommen. Mitunter ist das Nachbessern aber auch richtig teuer. Aus Feng-Shui-Sicht völlig misslungen war das zweihundertsechzehn Meter hohe Hopewell Centre im Stadtteil Wan Chai. Das kreisrunde Hochhaus erinnert an einen Schornstein. Und wozu braucht man einen Schornstein? Genau, um etwas zu verbrennen. Deswegen war schnell klar, dass der Bauherr, wenn er nicht einschritt, mit dem Gebäude sein Geld verbrennen würde – egal ob bei Vermietung oder Verkauf, viel würde für ihn nicht zu holen sein. Glücklicherweise wusste ein Feng-Shui-Meister Rat. Auf dem Dach des Wolkenkratzers baute man einen riesigen Swimmingpool. Zugang dazu gibt es keinen. Das macht aber nichts, denn abkühlen soll sich hier ohnehin niemand. Das Wasser ist lediglich dazu da, das »Schornsteinfeuer zu löschen« und so das Gebäude mit besserem Feng Shui zu versehen. Doch egal was man auch macht, man muss immer auf der Hut sein. Positives Feng Shui ist nämlich kein Dauerzustand. Schon ein Umbau am Haus des Nachbarn oder eine in dessen Vorgarten aufgestellte Statue kann das eigene Glück negativ beeinflussen. Oder eben ein Hochhausbau in der Nachbarschaft. Wer nichts riskieren will, lässt deswegen mindestens einmal im Jahr sein Haus von einem der zehntausend Hongkonger Feng-Shui-Meister prüfen. Die machen in Hongkong ganz ausgezeichnete Geschäfte. Und das, ohne eine Münze unter dem Teppich verstecken zu müssen.
Auch bei der von der Lage und dem Bauwerk so sehr begünstigten HSBC-Bank läuft Feng-Shuimäßig nicht immer alles rund. Bei Renovierungsarbeiten entwich durch Löcher in der Fassade das gute Karma. Und nachdem dann noch ein Arbeiter in die Tiefe stürzte und starb, war das Feng Shui zunächst völlig gestört. Dort, wo der Unglückliche auf den Boden schlug, wurden die Venen eines Drachen verletzt. Um diesen Schaden zu reparieren, hatten die Feng-Shui-Meister einiges zu tun. Wie man die Fassade eines Gebäudes regelmäßig in Stand setzen muss, so muss auch sein Feng Shui immer wieder auf Vordermann gebracht werden.
Wenn der Staat bei seinen Bauvorhaben das Feng Shui verletzt, wird oft Schadensersatz fällig. Als beim Bau der Bahnlinie zwischen Hongkong und Guangzhou das gute Feng Shui einer ganzen Siedlung zerstört wurde, sah sich die Regierung plötzlich einer Klagewelle wütender Anwohner gegenüber. Die Gerichte gaben den Antragstellern Recht, und das aus durchaus nachvollziehbarem