Ein ernstes Leben. Heinrich Mann

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Ein ernstes Leben - Heinrich Mann

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      Heinrich Mann

      Ein ernstes Leben

      Saga

       Ein ernstes Leben

      Coverbild/Illustration: Shutterstock

      Copyright © 1932, 2021 SAGA Egmont

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN: 9788726885712

      1. E-Book-Ausgabe

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

      Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

      www.sagaegmont.com

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      Erstes Kapitel

      Diesem Kind erschienen alle Jahreszeiten als halbe Fremde, nur nicht der Winter. Die Ostsee verbreitete Sturm und Kälte über ihren kahlen Strand, das hielt vor, und dann war es, wie es sein sollte. Die Sommerwochen dazwischen kamen für die Kinder der Badegäste, nicht für Marie und ihre Geschwister, die nur die gute Gelegenheit benutzten, um auch zu genießen. Der Sommer dieses Kindes war zauberhaft und nicht ganz glaubwürdig. Des Nachts im Traum vergaß es den Juli und sah die See hochgehn. Donnernd rollte sie heran, jeder Anlauf türmte ihre Wassermassen höher, und beim nächsten, beim nächsten verschlangen die Wellen den Katen, worin Marie schlief!

      Ihr Vater hieß Lehning und war Landarbeiter. Auch die Mutter Elisabeth diente bei einem Bauern. Trotzdem wohnten sie mit allen ihren Knaben und Mädchen unter dem Strohdach eines Katens unmittelbar neben der See, an der Stelle, wo die Promenade aufhört. Auch das steinerne Bollwerk endet dort, den Katen schützte es nicht mehr. Sie hausten darin auf gut Glück und immer gefährdet. Marie aber litt mehr Furcht als alle anderen.

      Mehrere der Geschwister, die im ganzen dreizehn gewesen wären, ließen sich von der See holen – verschwanden eins nach dem anderen, alle ihre Angehörigen suchten sie vergebens, während Eissplitter durch die verdunkelte Luft flogen. Am Morgen wurde doch noch etwas gefunden, zwei Holzpantinen standen droben auf dem Steindamm ordentlich beieinander, als wäre jemand schlafen gegangen.

      Übrigens war Warmsdorf ein lustiger Ort; nur der Lehrer hatte die bittere Frage erfunden, warum Warmsdorf so heiße. Er prüfte hierüber seine Schüler jedes Jahr mehrmals, und die Antwort mußte heißen: wegen der Badegäste. In Wahrheit fühlte die Bevölkerung sich wohler, wenn keine Fremden sie störten. Man mußte in den Häusern weniger leise auftreten, solange die guten Zimmer noch nicht vermietet waren. Die Fischer feierten den ganzen Winter ihre Familienfeste in Kuhns Hotel, woran während der Saison nicht zu denken war.

      Die Fischer stehen obenan. Sie sind untereinander alle verwandt, nie aber mit den anderen Schichten. Manche besitzen kleine Dampfschiffe. Sie brechen auf in eisiger Nacht, werden unsichtbar zwischen den Bergen aus brüllendem Wasser, und erscheinen sie wieder, sind zwanzig Stunden vergangen. Niemand außer ihnen selbst hält sich einer solchen Ausdauer für fähig. Anfrieren auf der Bank! Mit Eis im Bart! Dafür kehren sie zurück als große Seefahrer – am größten, wenn einer von ihnen nicht mehr zurückkehrt. Dann sieht das Dorf ihre feierlichen Leichenbegängnisse, nicht einer der Überlebenden fehlt, und der Grog, nachher in Röhns Hotel, ist ein wichtiges Getränk, von Blaugekleideten eingenommen. Die Söhne der Fischer können im Sommer aussehen wie Badegäste. Ja, die Besitzer der kleinen Dampfschiffe haben manchmal einen Jungen, der lieber nicht mit hinausfährt und sogar im Winter seidene Hemden trägt.

      Die Kaufleute und Gastwirte sind an Zahl zu gering, um gegen die Fischer aufzukommen, obwohl sie Stehkragen tragen, und das auch in Abwesenheit der Badegäste. Sie haben übrigens Schulden bei der Warmsdorfer Bankfiliale. Die Fischer arbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht mit ihrer eigenen Genossenschaft und sind sonst freie Männer. Sie haben Knechte, die das ganze Jahr in Lohn stehen und auf See alt werden – anders als die Arbeiter der Bauern.

      Die Bauern sitzen auf ihren Höfen hinter den Tannen. Ganz unten der Strand, dann der sogenannte Lügenberg, an seinem Fuß der Lehningsche Katen – darüber die Tannen und dahinter flaches Land, das sich in den tiefsten Wolken verliert. Von den Bauern bleibt jeder auf seinem Hof, ob die Arbeit drängt oder nicht. Sie haben einander nichts zu sagen. Man würde sich wundern, wenn einer von ihnen beim Barbier auftauchte, wo die Fischer täglich verkehren. Es ist nicht wegen der Bärte, die Fischer gehen zu Witt, weil er einen großen Ausschank hat, weil alle Nachrichten dort herauskommen; und wer aus Malmö zurück ist, zeigt sich zuerst beim Barbier.

      Die Fischer sind leutselig, je länger sie draußen und manchmal in Seenot waren. Die Bauern sind einsam und trauen niemand. Die Fischer erzählen einander, daß sie tausend Kilo Fische gefangen haben, wenn es in Wahrheit nur hundert sind; und der Schwindler wie der Angeschwindelte haben dabei einen humorvollen Zug. In ihren Schmierstiefeln, geölten Mänteln und mit der Piep stehen sie auch beisammen unter dem Lügenberg, der von ihren Geschichten so heißt.

      Die Bauern behalten ihre Knechte einen Sommer. Der Junge muß sehr tüchtig sein, damit er über den Winter dableiben darf, aber dann ohne Lohn. Landarbeiter Lehning nahm in jeder Saison, was er bekam, aber während der schlechten Jahreszeit brauchte ihn niemand – erst recht nicht, seit er trank. Vater Lehning trank Schnaps, es war der übliche Kümmel mit Kirsch, die Seltersflasche voll für zwanzig Pfennig. Dafür arbeitete seine Frau Elisabeth das ganze Jahr. Sie hätte Jauche gesoffen, um nicht entlassen zu werden. Sie bezog aber reichliches Essen, darauf kam dem Bauern nichts an; sie packte es in ihren Spankorb und brachte es ihren Kindern in den Katen, den der Sturm schüttelte.

      Als Marie Lehning zur Schule kam, wurde sie darauf zuerst aufmerksam, daß alle anderen Kinder frühstückten. Sie hatten Brot mit Schmalz, Brot mit Wurst, die Butter drang unter den Rändern hervor, die Nahrungsmittel dufteten würzig und fett. Backstuben, warme Küchen, Räucherkammern, alles duftete darin mit. Marie, die den Essenden zusah, bekam ein todernstes Gesicht und behielt es noch lange. Sie selbst hatte nicht einmal eine trockene Rinde, niemals, niemals. Die Kinder betrachteten sie ihrerseits wie ein Wunder. Mehrere hätten vielleicht mit ihr geteilt, sie waren nahe daran. Scheu vor dem ernsten Gesicht verhinderte es.

      Einst griff der Lehrer ein, er hielt ihr vor: »'n Happen Brot könntest du schließlich auch –«

      Der strafende Ton genügte, damit sie losheulte. Sie weinte viel und bei jeder Gelegenheit, besonders wenn sie Blarrmarie gerufen wurde. Dann plärrte sie schon. Die Tränen liefen ihr in den Mund, als wären sie ihre Nahrung.

      Als der Lehrer einmal eingegriffen hatte, wollte er auch zu einem Ergebnis kommen. Er gab ihr Geld und schickte sie fort, ihm einen Priem zu kaufen. Er hatte berechnet, daß es noch für einen Knust Roggenbrot langte. Sie kam aber zurück mit dem Kautabak und den übrigen Groschen. Sie hatte nicht begriffen. Er knurrte etwas wie »dämliche Deern«, und in seiner Wendung, als er ihr die Schulter zukehrte, hätten die Kinder ihre eigene Verlegenheit wiedererkennen können, wenn Marie so ernst aussah wie der Hunger selbst. Ein Glück, daß sie sofort wieder heulte. Die ganze Schule konnte rufen Blarrmarie und sie fröhlich auslachen.

      Hierauf wurde gesungen, es war das Lied von dem kleinen Hasen, der spielt und den der schlaue Fuchs frißt. »Lütt Matten de Haas, de mok sick een Spaß. He wier bit studiren, dat Danzen to lieren. Un danz ganz alleen op de achtersten Been.« Marie schluchzte noch. Sie sang

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