Ein ernstes Leben. Heinrich Mann

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Ein ernstes Leben - Heinrich Mann

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echt war, und amerikanischen Absätzen, auf denen sie sich unnachahmlich fortbewegte. Am Strand bevorzugte sie ein Mindestmaß von Badekostüm ohne Mantel. Groß, vollschlank und noch nicht gebräunt, bestach dieser fehlerlose Körper alle Blicke und schlenderte voll Erhabenheit den Herren, die ganz traurig wurden, an der Nase vorbei. Die Badegäste erholten sich von dem Eindruck erst, als sie erfahren hatten, daß G.P. Tietgen die Person mitgebracht hatte, und daß sie von hier aus dem Dorf war.

      Sobald es ihr mit Rücksicht auf ihren Begleiter möglich war, besuchte Antje den Katen ihrer Kindheit. Sie hatte nur deshalb auf Warmsdorf bestanden für diesen August, damit sie aus Röhns Hotel auf den Raten hinunterblicken konnte. Während des Ganges zu den Ihren dachte sie: ›Nun sollen die mal kieken! Die Gans und der Wein, so was kennen die gar nicht. Echtes Kirschwasser hat Papa auch noch nicht erlebt. Die setzen sich überhaupt hin, wie ich aussehe!‹

      Dennoch stand es um ihr Inneres viel demütiger. Ihr tiefstes Gefühl war: daß Mutter man nicht haut! Bei ihrem Vater hoffte sie sich eher durchzusetzen, daher hatte sie die Stunde gewählt, in der er voraussichtlich auf das Abendbrot wartete. Aber die Mutter sollte es vom Bauern erst mitbringen und war noch unterwegs. Soweit stimmte die Rechnung der verlorenen Tochter, nur hinsichtlich des Empfanges hatte sie sich doch noch Täuschungen hingegeben.

      »Na findest du mal her?« fragte der alte Lehning, ohne seine Pfeife aus den Zähnen zu nehmen. Ihre kleinen Geschwister zeigten weniger Verblüffung als kalte Neugier. Der schon größere Kasper grinste sogar anzüglich. Sie wurde verlegen und sagte:

      »Ich bin mit G.P. Tietgen hier.«

      »Das wissen wir. Sie reden grade genug … Na gib man her –« damit ließ Vater Lehning den strafenden Ton beiseite und nahm das Kirschwasser entgegen. Die anderen wickelten die Gans aus, legten sie in eine Blechschüssel und schienen entschlossen, gleich loszuessen. Antje benutzte den Augenblick, als ihnen das Wasser im Munde zusammenlief, um leutselige Fragen zu stellen. Da trat aber Mutter Elisabeth ein, sagte zuerst gar nichts, ging gleich an ihre Arbeit und sah die Tochter nur zwischen ihren Handgriffen mehrmals an – ohne Anerkennung, eher abschätzend wegen Kleidung und Schmuck, und dann drängte sie Antje in die Ecke beim Herd.

      »Heiratet er dich bald?«

      Antje lachte nicht ganz natürlich. »Wer heiratet heute noch!« erklärte sie geradeheraus – zu geradeheraus, zu nackt. »Ich bin froh, wenn er zahlt.«

      Schweigen im ganzen Katen. Die Mutter zögerte.

      »Zahlen? Wofür zahlt er denn?«

      Schweigen. Antje versuchte nochmals zu lachen, aber noch bevor der Ton kam, erinnerte sie sich. Niemand ahnte hier, daß es so etwas gab!

      »Ach – dafür zahlen sie?« sagte Mutter Lehning langsam, ihrer Entdeckung nicht sicher.

      Die Tochter nickte. »Nicht zu knapp!« behauptete sie stolz.

      Frau Lehning wußte noch nicht, was sie glauben sollte. Sie hatte die Gegend von Warmsdorf nie verlassen. Mit dieser neuen Seite des Lebens mußte sie für sich allein erst fertig werden. »Kannst mal was essen«, ordnete sie an und deutete mit einer Kopfbewegung nach dem Tisch. Sie selbst klapperte weiter beim Herd.

      Antje war auf dem Wege, mit den Kindern endlich wieder richtig zu reden, wie sie es verstanden, da wußte Frau Lehning, was sie wollte.

      »Wenn das so ist, dann gib uns auch was ab!«

      »Das hast du dir wohl gedacht!« Antje ging plötzlich hoch; in Geldsachen war sie an Deutlichkeit gewöhnt. »Was habt ihr mir gegeben, wie ich in Dienst ging?«

      »Von deiner Schwester Frieda haben wir schon nichts. Aber von der will ich auch nichts, die arbeitet. Du tust nichts, du kannst uns wenigstens helfen.«

      »Höre, Mama, du kennst das nicht.« Antje war nicht mehr zornig, nur noch ernst. »So schwer verdient sich keine ihr Geld.«

      »Und wir?« fragte die Mutter hart. Ihre freudlosen Augen gingen über den Lehmboden und die geweißten Wände. Der Blick der Tochter senkte sich, da traf er die Hände der Mutter. Sie waren groß und erdfarben, voll von Schwielen und schon verkrümmt.

      »Mal ein Kleid – sag ich nichts. Mal ein paar Mark, schön.« Dies kam von Antje hastig, in einer verwischten Art, und gleichzeitig zuckte sie die Schulter nach der Tür, wie um das Weite zu suchen. Das war das Zeichen für Frau Lehning. Groß, knochig, mit dunklem Gesicht und harten, hellen Augen, legte sie los – laut, aber ohne sich aufzuregen, und sehr langsam, sehr breit.

      »Ich bin auch mal fertig mit meiner Kraft, dann muß ich nach Brodten ins Armenhaus.«

      »Mußt du eben. Müssen wir alle mal«, murmelte die Tochter, aber die Mutter, unbeirrbar:

      »Ich geh nicht nach Brodten ins Armenhaus. Ich geh nach Hamburg und komm zu dir treppauf und läute bei dir, wo Frau Annie Lehning dransteht, und klemm den Fuß zwischen, daß die Tür nicht wieder zugeht. Dann setz ich mich in deine gute Stube, und da bleib ich, da kriegt mich keiner weg, und jedem sag ich, wer ich bin. Ich sag es den Herren und sag es den Damen, so lange, bis keiner mehr was von dir haben will, so lange, bis keiner dich mehr sehen kann. Dann mußt du raus aus deiner warmen Stube. Dann bist du unten, wo ich bin. Dann kommst du dorthin, wohin ich komme, nach Brodten ins Armenhaus!«

      »Ich sag es immer, du bist verrückt!« kreischte die Tochter nochmals, aber ihre Stimme wankte, das Mädchen fürchtete sich. Ihre Augen suchten umher nach einem hilfreichen Gesicht und fanden keins. Sie zog sich zusammen und wurde sichtlich kleiner von Gestalt. Hier erschien Marie.

      Sie sprang herein – hielt an, als sie Antje erblickte, rief: »Antje ist wieder hier!« und machte die Arme auf.

      Ihre Schwester lief ihr zwar nicht in die Arme, aber sie wurde doch sichtlich größer. Mutter Elisabeth zuckte zusammen und sah weg. Gleich darauf klapperte sie heftig mit Geschirr, während Antje mit Marie ins Freie ging. Sie hatte sich so weit gefaßt, daß sie der Familie noch heitere Grüße zuwarf. Draußen sagte sie zuerst:

      »Die gute Gans! Na laß. Sollen sie. Was kann Papa dafür. Ist er noch so oft duhn? Ich weiß schon – arme Leute. Du bist aber zu hübsch dafür, Marie. Laß mal kieken. Die Beine sind schon gut. Erst zehn Jahre? Höchstens noch vier, dann bist du entwickelt. Ich staune. Dich muß ich in meine Zucht nehmen.«

      Sie dachte nach.

      »Möchtest du mich in Köhns Hotel mal besuchen?« fragte sie. Marie sagte nicht nein.

      Antje überlegte: »Es ist nur wegen G.P. Tietgen, der will immer was zu melden haben. Aber wenn er sich grade mal im Strandpavillon besäuft, dann mach ich von meinem Balkon winke winke. Hab keine Angst, Mama sieht es nicht.«

      Marie wandte ein: »Ich muß bloß immer mit Badegästen spielen.«

      »Wieso? Mit Kindern? Was sind das für Leute?«

      Antje hörte ganz genau zu, wer Meiers waren. »Die beiden Gören bringst du mit!« verlangte sie. »Sag ihnen, bei mir bekommen sie Schokolade!« setzte sie schnell hinzu.

      Dies richtete Marie gleich am nächsten Morgen aus. »Meine Schwester wohnt in Köhns Hotel«, machte sie geltend. Sie empfand dabei einen Stolz, den irgend etwas störte, sie wußte nicht, was. Sonderbar, Meiers antworteten ihr nicht, sie sahen einander an und sprachen, als ob Marie nicht da wäre.

      »Papa und Mama hatten doch recht«, bemerkte Vicki mit erfahrenem Ausdruck.

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