Ein ernstes Leben. Heinrich Mann

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Ein ernstes Leben - Heinrich Mann

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Zorn war größer als ihr Schmerz. Sie ließ sich zu Marie über alles aus.

      »Mit einer Stricknadel! Damit das Kind nicht kommt, und dabei sollten sie heiraten!«

      ›Sie hat sich ganz schrecklich quälen müssen‹, dachte Marie. ›Bevor sie sterben konnte!‹

      »Dann hätte doch mal eine von uns ein besseres Leben gehabt!« sagte Mutter Lehning mit rauher Stimme.

      Bei dem Begräbnis Friedas aber war das ganze Dorf, auch die Fischer, auch die Kaufleute, und der Lehrer, der Pastor, der Arzt. Die Familie der Toten, so viele Kinder noch mitgehen konnten, drängte sich hinter dem Sarg zusammen, klein und erstaunt über das Ansehen, in dem ihre Frieda gestanden hatte. Ihnen folgten die guten Kleider, die guten Bratenröcke und der Zylinderhut, den jeder Älteste von seinem Vorgänger ererbt hatte. Als die Friedhofsmauer in Sicht kam, beugte Marie die Stirn und legte die Hände darüber – so, wie Frieda dagesessen hatte in jenem windgeschützten Winkel.

      Sie mußte nicht sogleich wieder zur Schule gehen, auf einem Gang aber hörte sie die Kleinen drinnen singen, es war der Vers: »Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot.« Hierbei dachte sie: ›Alles eins – bezahlen‹, die letzten Worte ihrer Schwester. ›Mir aber ist, als würde es nichts‹ – auch das fiel ihr wieder ein. ›Mit einer Stricknadel!‹ Dies war die Stimme der Mutter. Auf einmal meinte sie, auch Antje spreche zu ihr. Antje, die nie mehr ein Zeichen gegeben hatte, sollte sie je wieder eins geben? ›So wenig wie Frieda‹, mußte Marie denken. Gleichzeitig erschien ihr das Gesicht eines Gendarmen, der schon längst nicht mehr im Dorf war, aber er hatte den Vater abgeholt, als die kleine Dörtje oben in den Tannen lag mit dem Rock über dem Kopf.

      Sie fühlte Angst vor der allzu großen Deutlichkeit ihrer Erinnerungen, und grade die Furcht ihres Herzens versicherte ihr, daß sie dies alles nie vergessen werde. ›Jetzt weiß ich es‹, dachte sie. ›So ist es!‹ Immer beim Anblick der Liebespaare kamen ihr dieselben Worte. Des Abends auf der schwach beleuchteten Strandpromenade bewegten sich zwei Schatten unter diesem und jenem der Bäume, von denen die Blätter fielen. Die welken Blätter schwankten durch die Luft, bevor sie eine Strecke weiterhin den dunklen Boden berührten. Marie dachte: ›Jetzt weiß ich, wie das ist. Ich will auch nie mehr weinen. Meine Mutter weint nicht, und sie hat ein hartes Gesicht.‹

      Sie war ein herangewachsenes Mädchen, dreizehn, bald vierzehn, sollte eingesegnet werden, und daher ging natürlich auch sie schon mit ihrem Freund am Abend unter die Buchen. Mingo Merten hielt den Arm um ihre Schulter, sie umschlang die seine, und sie tuschelten, wie alle anderen. Bei keiner hätte der Junge mehr Unschuld und kindliches Vertrauen finden können. Was das Rollen der See nicht zudeckte von ihren Worten, klang ernst und hingebend. Wenn das Mondlicht hervorkam, konnte er ihren weichsinnenden Blick erkennen. Soviel sie ohne ihn und fern von ihm alles hatte erlernen müssen, es blieb ihm unbekannt. Sie bedauerte nicht sich selbst, aber ihr lieber Freund tat ihr leid. Daher verriet sie nichts, und er ahnte niemals, diese Stimme, dieser Blick kämen aus einem Innern, das sich schon schützen und verhärten wollte. Einst fuhr sie in seinem Arm zusammen, er bemerkte, daß sie zitterte, und wie sie fortstrebte. Unglücklicherweise versuchte er, sie festzuhalten, da riß sie sich los; sie schrie auf.

      »Laß mich!«

      »Was hast du auf einmal?«

      Sie hatte Boldt gesehen mit einem Mädchen. Der Verlobte Friedas stand mit einer anderen dort hinten unter dem Baum und küßte sie! Seinetwegen war Frieda tot! Er hatte gespart und wollte kein Kind, darum hatte sie sterben müssen, und jetzt küßte er die da! Marie sagte zu Mingo, ihr sei plötzlich schlecht geworden, und sie tat, als ob sie weinte. Er glaubte ihren Tränen, und sie durfte nach Hause.

      Als sie auch noch erfuhr, daß Boldt jetzt wirklich das Geschäft gekauft hatte und die andere heiratete, kam Marie auf den Gedanken, ihm das Haus anzuzünden. Der Gedanke ergriff sie wie eine entsetzliche Krankheit; wo sie ging und stand, trug sie eine Welt von Fieber mit sich herum, fürchtete sich, war verzweifelt und haßte. Eine ganze Nacht verbrachte sie im Stall hinter dem Boldtschen Anwesen, um auszukundschaften, wie sie es anfinge. Der Morgen graute, sie kehrte aber nicht in den Katen zurück, sondern lief hinunter zum Wasser. Es wurde grade Frühling, der Sand war zum erstenmal ganz trocken, sie watete darin mit ihren bloßen Füßen stundenlang. Es ermüdete sie sehr, aber den Gedanken brachte es nicht zum Schweigen, die ganze Zeit sann sie nur auf das Mittel, sich viel, viel Brennstoff zu verschaffen.

      Ein fremder Strand umgab sie endlich, so weit war sie gelaufen. Sie kehrte um, jetzt breitete sich über die Bucht das Morgenrot, eine von innen bunt erleuchtete Wolkenwand. Dagegen schwarz hingestellt, erblickte sie in der Ferne etwas, das vorher noch nicht dagewesen war, etwas Schweres, Massiges und Hartes, wer hatte es so schnell auf den Strand getragen? Trotz ihrem fieberhaften Denken wußte sie im Grunde, daß es ein Mensch war. Sie hielt an.

      Der Mensch war der einzige weit und breit, und er stand reglos der See zugewendet. Marie bestaunte seinen Rücken, der mächtigste Rücken, den sie je gesehen hatte. Er aber drehte sich – drehte sich langsam ihr zu, er wußte, daß sie da war! Sofort erstarrte sie; dem Mann dort war bekannt, wo sie die Nacht gewesen war! Dort wartete er, sie mußte an ihm vorbei, sie entging ihm nicht. Die Düne hinauf und flüchten? Schwer wie er war, es blieb dennoch sicher, daß er noch vor ihr droben anlangte und sie abfing. Sie setzte den Fuß an, sie mußte auf ihn zu, so sehr ihr Herz auch klopfte. Der Mensch war unausweichlich, und er sah ihr entgegen, jetzt noch aus der Entfernung. Aber sie sollte, mit stockenden Füßen, den ganzen Abstand durchmessen.

      Die Gestalt wurde nur größer. Sie trug einen runden Hut und einen riesigen dicken Mantel, alles schwarz. Wie dick war der Mantel, daß der Morgenwind ihn gar nicht bewegte! Endlich erkannte sie auch die Farbe seines Gesichts. Bisher nur ein Stück Schatten, hellte es sich während ihres Näherkommens auf und wurde grau, massig und steingrau. Jetzt war sie auf seiner Höhe, verlangsamte noch mehr ihren Schritt und suchte seine Augen – fand sie aber geschlossen. Offen oder geschlossen, sie folgten ihr, die Augen des ungeheuren Fremden hatten sie durchschaut!

      Erst als sie an ihm vorbei war, wagte sie es, sich hinter die Düne zu ducken und gebückt davonzuhasten. Wenn er sie gerufen hätte, sie wäre umgekehrt und hätte alles gestanden.

      An dieser Begegnung zerschlug sich ihre Versuchung. Der Gedanke, der sie wochenlang besessen gehalten hatte, fiel ohne weiteres ab. Sie vergaß sogar Boldt, sein Haus und den Brand, den sie hatte legen wollen. Im Herbst, Marie war grade vierzehn geworden und eingesegnet, kam dann das Hochwasser, jenes unvergessene, von dem Warmsdorf sich jahrelang nicht erholt hat.

      Wirklich und wahrhaftig trat ein, was sie in den ersten Ängsten ihres Lebens, als kleines Kind des Nachts in ihrem Bett vorausgeahnt hatte. Donnernd rollt die See heran, jeder Anlauf türmt ihre Wassermassen höher, und beim nächsten, beim nächsten verschlingen die Wellen den Katen, worin Marie schläft! Als es in Wirklichkeit geschah, schlief sie denn auch fest und ahnungslos. Sie erwachte von heftigen Schlägen an den Fensterladen, das war die Warnung.

      Der Vater schlief weiter, er hatte getrunken; aber die Mutter stieß die Tür auf, alle ihre Kraft war nötig gegen den Sturm, der die Tür zudrückte. Der Sturm wütete und Gestalten kämpften sich hindurch. Mehrere trugen Laternen, Fischerfrauen waren zu erkennen; schon durch Wasser steigend in hohen Stiefeln aus Hirschleder, retteten sie ihre Kinder das Bollwerk hinauf und über die Promenade. Mutter Lehning trieb die Ihren zusammen, da drang die See auch schon in den Katen. Was noch folgte, begriff Marie nur wie einen Traum des Entsetzens. Sie wußte nachher nichts weiter, als daß sie mit ihren Geschwistern das Bollwerk soeben hinter sich gelassen hatte, da stürzte es ein. Auf den finster fahlen Fluten sah sie etwas treiben, den Katen, sein Strohdach, und droben liegend, angeklammert, ihren Vater.

      Von der Promenade krochen sie auf Händen und Füßen höher und in die Tannen hinein. Kaum daß sie sich vom Erdboden aufrichteten, zerbrach die Promenade

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