Ein ernstes Leben. Heinrich Mann
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Jetzt fiel es Marie ein, was der Fuchs vorhatte, darüber vergaß sie den Priem. »Kumm lat uns tosam, ick kann as de Dam.« Das war schlau von Reinke, sich als Dame anzustellen, damit kriegte er lütt Matten! Marie freute sich. »De Kreide speelt Fiedel, denn geiht dat kandiedel, denn geiht dat mal schön op de achtersten Been.« Den hellsten Diskant hatte Marie Lehning.
»Halt! Den letzten Vers singt Marie allein«, rief der Lehrer, denn er hatte das Gefühl, daß er das Kind ermutigen müsse. Es krähte denn auch freudig aus voller Kehle: »Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot. He sett sick in Schatten, verspies denn lütt Matten. De Krei de kreeg een von de achtersten Been.«
Als sie fertig war, lachte sie dreimal hoch auf. Der Lehrer sagte: »Siehst du wohl, das kommt davon!« Die ganze Schule freute sich über das Schicksal lütt Mattens, der betrogen und gefressen worden war. Am glücklichsten war Marie.
Einige Zeit verging, da wurde eine ihrer Schwestern im Walde tot aufgefunden, mit dem Rock über dem Kopf, und die dünnen kleinen Beine lagen im blutigen Schnee. Der Vater wurde vom Gendarm geholt, um seine Tochter anzusehen, aber die Mutter erklärte, er sei duhn, sie müsse mitgehen. Ihr schlossen sich auch die Kinder an, so viele noch da waren. Alle weinten, besonders der Vater. Klein und dürftig suchte er Halt bei seiner großen Frau, die nichts ins Wanken brachte. Sie war die einzige, die keine Träne vergoß. Ihre Augen blieben wasserhell und ungetrübt in einem Gesicht wie Leder.
Auf dem Rückweg packte Marie den Rock der Mutter und ließ nicht mehr los. Den ganzen Tag blieb sie im Haus und verließ es auch am folgenden Tage nur, wenn sie hinausgejagt wurde. Damit man sie duldete, machte sie alle ihre Schulaufgaben. Was sie nicht wußte, fragte sie den Vater, der keine Arbeit hatte.
»Sag dem Lehrer, das soll er man selbst herauskriegen!« Der Vater war bei schlechter Laune, weil er sich keinen Schnaps kaufen konnte.
Marie indessen setzte sich ohne jeden Übergang an etwas ganz anderes. Sie versuchte auszurechnen, wie viele Geschwister sie gehabt hatte, und wer alles verlorengegangen war. Sie schrieb auf ihre Schiefertafel die Namen, die sie kannte, und verzeichnete daneben: »Husten« oder »Versoppen« oder »Im Wald hingefallen«. Die Schwierigkeit begann bei den Großen, die das Dorf verlassen hatten, als sie selbst noch ganz klein war. Lebten die? Und mußte man sie überhaupt mitzählen? Marie wußte knapp, wie sie hießen, von ihnen war nie die Rede hier im Katen.
Alles ging langsam bei Marie. Körperlich kam sie mit und war auf dem Wege, hübsch und kräftig zu werden, wie alle weiblichen Lehnings; man wußte nicht, wovon. Die Jungen gerieten schlechter. Aber bis sie etwas begriff, dauerte es länger. Zu der Rechnung mit den toten und lebenden Geschwistern kehrte sie noch mehrmals zurück. Dann war die Furcht seit jenem Ereignis in den Tannen wieder vergessen, Marie kam nach der Schule nicht mehr außer Atem zu Hause angerannt, sie trieb sich wieder umher. Es war auch schon nicht mehr derselbe Winter, sondern ein anderer, da wurde ihr klar, daß der Katen niemals warm war. Im Katen zu frieren, hatte sie immer für richtig gehalten. Abends kehrte die Mutter heim und kochte Suppe auf der steinernen Feuerstelle. Man konnte die Hände in die Wärme halten, oder auch das Gesicht, wobei man sich die Brauen versengte.
Jetzt machte Marie die Bekanntschaft des Mädchens aus dem Räucherkaten. Es hieß Stine, und eigentlich waren beide schon längst gewohnt, einander überall zu begegnen. Eines Tages und ohne Vorbereitung faßte Stine die andere unter den Arm und nahm sie mit. Sieh mal an, im Räucherkaten war es warm! Sonst hätte es wohl auch keine geräucherte Wurst gegeben. Zuerst bekam man Würgen, weil in dem Katen die Luft braun und dick vom Rauch war. Kein Abzug; nur die obere Hälfte der Tür wurde manchmal aufgeklappt, wenn die Luft zu schlimm würgte. Aber dafür heizte die Glut unausgesetzt, und die vielen Würste unter der Decke waren herrlich anzusehen. Stine, ihre Eltern und Geschwister wurden selbst mitgeräuchert, sie kriegten Falten schon als Kinder. Wenigstens saßen sie warm.
Erst einige Zeit nach ihrem Besuch im Räucherkaten kam Marie auf den Gedanken, daß in anderen Häusern die Stuben warm waren, ohne daß es rauchte. So gut hatten es die Kinder der Fischer. Wenn Stine zum Beispiel die Tochter von Fischer Merten gewesen wäre, dann hätte sie Marie unter den Arm gefaßt und sie mitgenommen in das große Haus mit dem Garten, wo sie Schollen hatten mehr als alle zusammen aufessen konnten, und das in der warmen Stube. Von den Würsten in dem Räucherkaten gab es nichts, die Eltern Stines waren arm. Da wurde es dem Kinde klar, daß das andere Mädchen es gerade darum untergefaßt und mitgenommen hatte. Beide waren arm. Wollte eine im Warmen sitzen, mußte sie dafür Rauch schlucken.
Das hatten manche nicht nötig, die Kinder der Fischer nicht, die Kinder der Bauern, der Kaufleute. Darin lag der Unterschied, und darum war es keins von ihnen allen, das mit Marie nach Haus ging. Sie selbst hätte es auch gar nicht für richtig gehalten. Wenn sie alles überlegte, vielleicht hätte sie sich losgemacht von dem Arm des Fischermädchens und wäre fortgelaufen. Die Fischer standen obenan, etwas abseits die Kaufleute, viel tiefer die Bauern, – aber wann kamen die Landarbeiter? Sie kamen lange nach den Schifferknechten, ihr Platz war unten. ›Wir sind die Untersten‹, erkannte Marie.
In dem großen Haus mit dem wilden Wein war ein Junge, Mingo Merten, wenig älter als Marie, aber wieviel dreister! Nach dem Winter, währenddessen Marie über die verschiedene Wärme der Stuben nachgedacht hatte, wurde es Frühling, da griff Mingo ihr in das dichte aschblonde Haar und verlangte, sie solle in seinem Garten mit ihm spielen. Sie fragte:
»Was machen wir?«
»Ich habe einen Hund, der frißt gern rohe Eier. Ich mag auch gern rohe Eier. Du auch?«
Sie waren darin einig. Der Hund nahm wirklich den Hühnern die Eier weg, trug sie äußerst vorsichtig auf weichen Boden und öffnete sie mit den Zähnen. Es war ein großer Spaß. Marie bekam, so viele sie wollte; sie hörte aber auf, bevor es genug war.
»Wenn deine Mutter es sieht –«
»Dann gibt es eine Tracht«, sagte er im Scherz, sie weinte sofort. Er rief »Blarrmarie!« Plötzlich langte sie ihm eine; keiner von ihnen hatte es erwartet, er nicht und sie selbst nicht. Nach dem ersten Schrecken schlug er zurück, sie kratzte und bekam ihren Teil Prügel, aber nicht mehr als er. Denn er war nur schwächlich für einen Jungen, war als kleines Kind immer krank gewesen und wurde daraufhin noch weiter verzogen. Sie lief fort, da lag er am Boden und schimpfte ihr nach. Als sie schon weit war, hörte sie ihn in einem anderen Ton nach ihr rufen. Wollte er, daß sie wiederkam? Sie ließ sich nicht aufhalten.
Die folgende Zeit sah keiner den andern auch nur von fern an. Wenn Marie an seinem Haus vorbeiging, dachte sie gewöhnlich: ›Mingo ißt Scholle.‹ Er hatte ihr erzählt, daß die Speisekammer bei ihnen immer offenstand. Sie konnte es kaum glauben. Darüber trat ein Sommer ein. Zehn Jahre war sie alt. Diesen Sommer sollte sie nicht vergessen.
Die Badegäste zeigten sich, und in der Vorderreihe, wo die besseren Villen des Seebades Warmsdorf stehen, mietete eine Berliner Familie, der Herr, die Dame, ein Mädchen und ein Junge. Die Eltern machten alles mit, was los war, Segelregatta, Autorennen. Auch den Chauffeur und die Zofe benötigten sie bei ihrem anstrengenden Leben und suchten daher jemand, der am Strande auf ihre Kinder aufpassen sollte.
»Das ist ein hübsches Kind«, sagte die Dame laut, als Marie vorüberging. »Halt mal!« rief sie. Marie glaubte zuerst, sie hätte etwas verbrochen. Die Dame erklärte dem Herrn, das Mädchen sehe vernünftig aus, groß sei es auch schon, und mit dem Wasser wüßten sie hier von klein auf Bescheid. Man könnte es versuchen, außerdem hätten die Kinder gleich jemand zum Spielen.
Marie stand dabei, während über sie beraten wurde, begriffen hatte sie noch nicht. Die Herrschaften waren weder aus Lübeck noch aus Hamburg, sie drückten sich anders aus. Die Kinder