Der Rattenzauber. Kai Meyer
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Читать онлайн книгу Der Rattenzauber - Kai Meyer страница 10
»Ein hübsches Ding«, bemerkte Dante.
Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele wie sie.«
»Schenken sie Euch alle so viel Aufmerksamkeit wie diese hier?«
»Wie meint Ihr das?«
Dante lächelte. »Ihr wollt behaupten, Ihr habt nicht bemerkt, wie sie Euch anschaut?«
»Da müsst Ihr Euch irren, denn sie meidet es, mich anzusehen, wo sie nur kann.«
»Natürlich, wenn Ihr es bemerken könntet. Doch hinter Eurem Rücken hängt sie mit feurigen Blicken an Euch.«
Dies verstimmte mich ein wenig. »Ihr treibt Eure Scherze mit mir, Herr Dante.«
»Weshalb sollte ich? Ihr seid ein Ritter des Herzogs, und einen besseren Verbündeten mag man sich an einem Ort wie diesem nicht wünschen.«
Ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Verratet mir lieber, was Euch an diesen Ort verschlug.«
Maria brachte mein Bier, und ich gab mir alle Mühe, so gleichgültig wie nur möglich zu erscheinen. Dante bemerkte es sofort und schien sich ein Lachen zu verkneifen. Dann, nachdem das Mädchen fort war, sagte er vage: »Ich bin hier, um im Rahmen meiner Studien einige Forschungen zu betreiben. Und Ihr selbst?«
Ich zögerte einen Augenblick und überlegte, ob es ratsam sei, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch bei irgendwem musste ich mit meinen Fragen beginnen, und da war Dante so gut wie jeder andere. Zumal er nicht von hier war und ihm Dinge auffallen mochten, die Einheimischen entgingen.
»Wie schon erwähnt, bin ich im Auftrag des Herzogs von Braunschweig hier«, begann ich. »Meinem Herrn kam ein Gerücht zu Ohren, dass in dieser Stadt vor drei Monaten, am 26. Tag des sechsten Monats, eine große Anzahl Kinder spurlos verschwunden sei.«
»Einhundertunddreißig«, sagte Dante.
»Ihr wisst davon?«, fragte ich verblüfft.
»Die Gerüchte sind nicht nur bis an Euren Hof gedrungen. Doch sprecht erst zu Ende, dann werde ich mich erklären.«
Trotz aller Verwunderung fuhr ich fort: »Nun, man spricht wirklich von hundertdreißig Kindern, die sich an einem einzigen Tag schier in Luft auflösten. Und mein bisheriger Weg durch die Stadt scheint das Gerücht zu bestätigen. Ich sah nicht ein einziges Kind in Hameln.« »Und Euer Herzog sandte Euch hierher, um herauszufinden, was mit diesen Mädchen und Jungen geschah?«
»Allerdings«, entgegnete ich nicht ohne Stolz, »was mit ihnen geschah, und warum niemand eine Meldung darüber machte.« Denn so war es in der Tat: Nicht einmal der Graf von Schwalenberg als Statthalter des Herzogs hatte eine entsprechende Botschaft gesandt – worüber ich mich freilich nach der Begegnung mit ihm kaum noch wunderte.
Dante nahm einen Schluck aus seinem Krug, ich tat es ihm gleich. »Dann wisst Ihr auch, was man sich über die Kinder erzählt?«, fragte er.
»Ihr meint diesen Unfug über den Spielmann?«
»Kein Spielmann«, verbesserte er mich. »Ein Rattenfänger. Die Hamelner Stadtväter beauftragten ihn, sie von der Rattenseuche zu befreien, welche die Stadt vor geraumer Zeit befiel. Mit seinem Flötenspiel führte er die Tiere in den Fluss, wo sie ertranken. Doch als er zurückkehrte, um seinen Lohn zu verlangen, jagten die Hamelner ihn davon. Im Schutz der Nacht aber kam er ein zweites Mal zurück, und diesmal lockte er die Kinder mit seinem Spiel aus den Häusern und führte sie durch einen Schlund im Kopfelberg, östlich der Stadt, direkt hinab in den Schlund der Hölle.«
Ich konnte mich eines Lachens nicht erwehren. »Kein Wunder, dass man ihm die Bezahlung verweigerte. Fielen Euch nicht die zahllosen Ratten auf, die sich noch immer in den Gassen tummeln? Er kann seine Arbeit schwerlich gut gemacht haben.«
Dante blieb zu meinem Erstaunen völlig ernst. »Ich bin nicht sicher, was von der Sache zu halten ist.«
»Aber, guter Mann, wie könnt Ihr eine Mär wie diese ernsthaft in Betracht ziehen? Ich meine, das Volk ist schneller mit solchen Schauergeschichten zur Hand als mancher Räuber mit dem Messer.«
»Sicher. Doch bedenkt, es ist kaum drei Monde her, dass die Kinder verschwanden. Weshalb sollte man in so kurzer Zeit ein solches Ammenmärchen erfinden? Weshalb sagt einem keiner die Wahrheit, falls es eine gibt?«
»Ihr habt es versucht?«
»Natürlich. Deshalb bin ich hier.«
Meine Verwirrung mehrte sich mit jedem seiner Worte.
»Ich fürchte, Herr Dante, Ihr müsst mir nun doch ein wenig mehr über Euch selbst berichten.«
Dante lachte. »Ich bin nur ein Student, nicht mehr.«
»Ihr scheut Euch, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Weil Ihr mich dann unzweifelhaft für verrückt halten werdet.«
»So aber muss ich annehmen, dass Ihr in die Sache verstrickt seid.«
»Wollt Ihr mir drohen, Meister Robert?«
»Ich will nur die Wahrheit hören, sonst nichts.«
»Um jeden Preis?«
»Sorgt Euch nicht um Euer Ansehen.«
Dante seufzte, strich mit einer blitzschnellen Bewegung eine Haarsträhne aus seiner hohen Stirn und sagte dann: »Ihr habt gefragt, und ich will Euch die Antwort geben, die Ihr nicht hören wollt: Ich bin ein Reisender auf den Spuren der Hölle.«
Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Ihr scherzt.«
»Das würde ich nicht wagen«, entgegnete Dante und wehrte den Vorwurf in einer übertriebenen Geste mit beiden Händen ab. »Ihr wollt wissen, was mich nach Hameln führte, und Eure Neugier will ich stillen. Gleich als ich das Gerücht vom Rattenfänger hörte, machte ich mich auf den Weg hierher, und, glaubt mir, es war ein Weg nicht ohne Mühen und für einen beachtlichen Preis. Seit einigen Jahren schon studiere ich das Wesen der Hölle und jener, die darin hausen. Ich habe zahllose Reiseberichte gläubiger Mönche gelesen, Reisen tief in den Abgrund von Sünde und Pein. Ich trage die entsetzlichen Visionen des Alberich von Settefrati ebenso tief in meinem Herzen wie jene des Thurchill und des Zisterziensers von Saltrey, dazu noch viele andere mehr, Schriften, die ich Wort für Wort zitieren kann, wenn Ihr es verlangt. Längst schon brennt der Wunsch in mir, selbst die unterirdischen Täler und furchtbaren Berge, die Flammenseen und Satansheere zu schauen, und so folge ich jeder Spur, jedem Hinweis auf ein Tor zum Reich des Leibhaftigen. Als ich nun hörte, dass der dämonische Rattenfänger die Kinder Hamelns durch eine Grotte im Kopfelberg in die Hölle geführt haben soll, hielt mich nichts mehr in meiner Heimat. Ich machte mich sogleich auf, und nun bin ich hier – seit zwei Tagen, um genau zu sein.«
Während Dante sprach, hatte Maria mein Essen aufgetragen, doch so gebannt war ich vom Wahn hinter seinen Worten, dass ich weder sie selbst noch den verlockenden Duft der Speisen wahrnahm. Ich hatte meinen Blick nicht ein einziges Mal von ihm abgewandt. Ein verzehrendes Feuer loderte in seinen Augen, das jeden Zweifel zerstreute. Dante glaubte an das, was er sagte.
Als mir das ganze Ausmaß seiner Besessenheit klar wurde,