Der Rattenzauber. Kai Meyer

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Der Rattenzauber - Kai  Meyer

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      »Ihr seid der Statthalter des Herzogs«, entgegnete ich mit bebender Stimme. Bei Gott, wen mochte es wundern, dass niemand in die Dienste dieses Irren trat.

      »Euer Vorhaben ist das Tun eines Ketzers. Ist dies die Art und Weise, wie Ihr das Ansehen des Herzogs wahrt? Mit gottloser Blasphemie?«

      Da erschien brodelnder Zorn im Blick des Grafen.

      »Mein Junge, Ihr verkennt die Lage. Niemand hat hier in Hameln das Sagen außer dem Vogt.« Dabei fuhr seine Hand in einem ungelenken Wink über den Stiftsbezirk. »Meine Anwesenheit ist ein schlechter Witz, über den keiner mehr lacht. Die Stadt ist für den Herzog längst verloren, nur weiß er es noch nicht. Außer mir, einem schwachsinnigen Henker und zwei, drei Getreuen gibt es niemanden in Hameln, der auch nur einen Gedanken an den edlen Herzog im fernen Braunschweig verschwendet. Das solltet Ihr wissen, bevor Ihr Euch daranmacht, in dieser Stadt herumzuschnüffeln.«

      Ich erkannte, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu streiten. Sein Geist war verwirrt, nichts würde ihn von seinem Irrsinn abhalten. So besann ich mich auf den eigentlichen Grund meines Kommens.

      »Was geschah mit den Kinder?«, fragte ich und stemmte mich gegen den Regen. Der Wind riss mir die Worte von den Lippen. »In Braunschweig hört man Gerüchte über hundertdreißig Jungen und Mädchen, die vor drei Monaten spurlos aus Hameln verschwanden. Sagt Ihr mir, wohin!«

      Der Graf blinzelte mich einen Augenblick lang an, dann wandte er sich wortlos um und stieg hinab in den Turm. Ich folgte ihm aufgebracht. »Ihr müsst es mir sagen, nur deshalb bin ich hier.«

      Graf Schwalenberg durchschritt den Saal im ersten Stock, eilte hinab ins Erdgeschoss und erwartete mich mit steinernem Gesicht an der Haustür. »Geht!«, sagte er, und es war viel mehr als eine Bitte. »Geht, und lauft in Euer Unglück. Oder reitet zurück zu Eurem Herrn und sagt ihm, Ihr hättet nichts erfahren können.«

      Ich bebte vor Entrüstung. »Er ist auch Euer Herr. Und seid versichert, dass er erfahren wird, wie Eure Antwort aussah.«

      Der Graf schnaubte gleichgültig. »Wie Ihr wollt, edler Ritter. Hameln hält mich längst gefangen, und wenn Ihr nicht eilt, wird es Euch bald ebenso ergehen.« Damit riss er die Tür auf und drängte mich ins Freie. »Reitet fort und fragt nicht mehr nach den Kindern. Vor allem aber kehrt niemals zu mir zurück. Ich werde Euch nicht einlassen.«

      Damit schlug er die Tür zu, und wieder stand ich im Regen. Doch diesmal spürte ich die Nässe nicht. Mein Körper loderte vor Hitze. Noch einmal fuhr mein Blick über die widernatürlichen Bildnisse auf der Vorderseite des Hauses, dann schritt ich erhobenen Hauptes zu meinem Pferd und stieg auf.

      Ein letztes Mal drehte ich mich um. »So handelt kein Ritter, Herr Graf. Hört Ihr? Ihr seid kein Ritter mehr!«

      Doch meine Wut wurde niedergedrückt vom Regendunkel, und jedes Wort verhallte ungehört.

      2. KAPITEL

      Das alte Dorf, jetzt fester Bestandteil der ummauerten Stadt, glitt mir durch Schleier aus Halblicht entgegen, als ich entlang des Weserufers nach Norden ritt. Ein einsamer Kahn schien herrenlos über den fahlen Spiegel des Flusses zu treiben. Weiter südlich sah ich die mächtige Steinbrücke, die das Wasser überspannte und hinüber zu den buckligen Wäldern auf der anderen Seite führte. Genau auf Höhe der Stadt teilte sich der Fluss und umschloss ein schmales, lang gestrecktes Eiland, öde und leer, wie der Kadaver eines Lindwurms, dessen aufgeblähter Rücken leblos auf den Wellen trieb. Zwischen Insel und Stadt hatten die Bürger Hamelns eine Reihe mächtiger Baumstämme in den Grund der Weser getrieben, um den Fluss aufzustauen und Boote aufzuhalten, die ohne Wegezoll vorüberfahren wollten. Nur durch einen schmalen Durchlass am der Stadt zugewandten Ufer durften die Schiffer gegen ein Entgelt passieren. Hamelner Loch nannte man hier diese Enge, und als ich an ihr vorüberritt, blickten mir die schweigenden Tagelöhner finster hinterher.

      Die zusammengewürfelten Häuser des Dorfes hielten keinem Vergleich mit den Bauten der reichen Händler und Stadtoberen im Süden stand. Vielmehr drängten sie sich eng und gebeugt aneinander wie ein Haufen klagender Weiber. Jedes Dach, jede Wand, ja selbst die Menschen schienen vom grauen Schmutz des Ödlands wie von Raureif überzogen. Kaum eines der Häuser hatte mehr als ein Stockwerk, alles war aus Holz gezimmert und hier und da mit Lehm verputzt. Die meisten Fenster hatte man mit Häuten bespannt, die übrigen durch hölzerne Läden verschlossen; auch das Glas war den Reichen vorbehalten. Die Gassen waren so schmal, dass kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten, ohne mit den Schultern zusammenzustoßen. Die fetten schwarzen Ratten beherrschten die Schatten und wieselten dreist zwischen den Hufen des Pferdes einher.

      Männer und Frauen, die ich traf, beäugten mich voller Misstrauen. Trotz der Nässe und des Schlamms, der über mich und das Pferd gespritzt war, sah man mir an, dass ich nicht in diesen Pfuhl aus Armut und Elend gehörte. Dabei war dies doch meine Heimat, wenngleich ich die Wege breiter, die Häuser viel höher und die Menschen freundlicher in Erinnerung hatte. Alles schien mir merkwürdig fremd, als kehrte ich nicht zurück an den Ort meiner Kindheit, sondern ritte vielmehr durch eine ferne, feindselige Gegend, für die ich nichts als Verachtung spürte.

      Ich war nicht sicher, was ich eigentlich in diesem Teil Hamelns suchte. Ebenso gut hätte ich mit meinen Nachforschungen über das Schicksal der Kinder im reichen Süden beginnen mögen, und doch trieb mich ein unbestimmtes Gefühl hierher. Hier drängten sich die meisten Bewohner der Stadt auf engem Raum; zweifellos war ein Großteil der verschwundenen Kinder unter diesen armseligen Dächern geboren. Nirgends war einer zu sehen, der weniger als fünfzehn, sechzehn Lenze zählte, was mich in meinem Entschluss bestätigte – wenngleich die stumme Ablehnung in den verhärmten Gesichtern wenig Bereitschaft zeigte, mit mir über das Geschehene zu sprechen.

      Ich stieg vom Pferd und führte das Tier an den Zügeln. Sogleich sanken meine Füße in den schlammigen Boden, doch schien mir mein Sitz auf dem Rücken des Rappen zu stolz und überheblich inmitten solch karger Bedürftigkeit. Eine Weile lang erwog ich, das Haus meiner Kindheit zu suchen, doch dann entschied ich mich fürs Erste dagegen. Meine Familie war nicht mehr, nichts zog mich zurück zu meinen Wurzeln.

      Vor einem der wenigen Häuser, welche die übrigen durch ein zweites Stockwerk überragten, machte ich halt. Ein hölzernes Schild wies es als Herberge aus, und obgleich es im Süden zweifellos ein einladenderes Gasthaus geben mochte, beschloss ich, hier um Aufnahme für die Nacht zu bitten.

      Ein buckliger Knecht führte mein Pferd in einen Stall an der Rückseite. Die Fensterläden waren bis auf schmale Spalten geschlossen, auch dieses Haus starrte von außen vor Schmutz. Wie erstaunt war ich allerdings, als ich den Schankraum in unverhofft reinlichem Zustand vorfand. Bis auf den Boden, der durch zahllose Fußtritte schlammverkrustet war, glänzte alles vor polierter Sauberkeit. An langen Tischen standen Bänke, die um diese Tageszeit allesamt leer waren. Eine hölzerne Treppe führte hinauf ins Obergeschoss.

      Aus einer Tür, hinter der wohl die Küche lag, trat ein junges Mädchen, siebzehn vielleicht, kaum älter. Es trug ein Kleid aus grob gewebtem Stoff und eine fleckige Schürze. Sein schmales Gesicht war hübsch anzuschauen und von belebender Frische. Langes, strohfarbenes Haar wuchs als wilde Mähne bis hinab auf seinen Rücken. Seine Wangen erröteten schlagartig, als es meiner ansichtig wurde, es fuhr auf der Stelle herum und lief dorthin zurück, von wo es gekommen war.

      »Großmutter«, hörte ich seine Rufe im Hinterzimmer.

      »Großmutter, komm schnell! Ein Gast ist da.«

      Wenig später stürmte ein Schlachtross von Weib in die Stube, grauhaarig und gewaltig, mit Bauch und Busen wie Berge. Sobald sie mich sah, verwandelte sie sich

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