Der Rattenzauber. Kai Meyer

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Der Rattenzauber - Kai  Meyer

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der aufgebrachten Gruppe in einigem Abstand durch den peitschenden Regen zur Stadt.

      Die Wehrmauer, die Hameln umgab, war nicht allzu mächtig, vielleicht drei Mannslängen hoch; einem Sturm entschlossener Gegner würde sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Die Planer der Stadt hatten wenig für ihre Verteidigung aufgewandt, und als ich durch das Osttor ritt, begriff ich sogleich den Grund.

      Nachdem sich eine weitaus größere Menge Schaulustiger, die den Soldaten und ihrem Gefangenen am Tor entgegengefiebert hatten, der kleineren Gruppe angeschlossen hatte und unter allerlei Geschrei und Gefluche mit ihr weiter gen Markt gezogen war, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick. Erst glaubte ich, die Stadt liege in Ruinen, dann erst wurde mir klar, dass Hameln alles andere als eine vollendete Siedlung war. Im Süden gab es einen sichelförmigen, innen an die Stadtmauer geschmiegten Bereich bewohnter Häuser, und auch weiter oben im Norden entdeckte ich alte, gebückte Gebäude; das mussten die Dächer und Giebel gewesen sein, die ich aus der Ferne gesehen hatte – Häuser, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Zwischen den beiden Ansiedlungen im Norden und im Süden aber befand sich wüstes, totes Bauland. Vor mir erstreckte sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gruben, halbfertigen Mauern, Holzgerüsten und einigen ungedeckten Dachstühlen. Regentropfen wühlten den dünnflüssigen, schwarzen Schlamm auf, der den wenigen Tagelöhnern, die ich sah, bis zu den Waden reichte. In der Mitte dieser unwirtlichen Ödnis ragte ein bereits vollendeter Kirchturm in den grauen Himmel (im südlichen Bezirk gab es einen zweiten, kleineren), daneben stand ein gleichfalls fertig gestelltes Gebäude von beachtlicher Größe, zweifellos das Rathaus. Die Menschenmenge zog entlang einer Straße zum Kirchturm, an dessen Fuß sich der Marktplatz befand.

      Hameln war meine Heimat gewesen, doch während der langen Jahre meiner Abwesenheit hatte sich vieles, ja beinahe alles verändert. Das mir vertraute Hameln war ein armseliges Dorf am Flussufer gewesen, ohne Stadtmauer, ohne die Wohnhäuser der Reichen im Süden und ganz sicher ohne jene Wüstenei aus Mauern und Pfählen, die wie dunkle Zahnstümpfe aus dem kohlenschwarzen Erdreich ragten. Das Dorf, in dem einst meine Familie lebte, existierte noch, denn nichts anderes waren die kauernden Hütten und Häuser im Norden, doch die Stadtplaner des Herzogs und des Bischofs hatten es durch ihr Vorhaben, den Ort auf einen Schlag um ein Vielfaches zu erweitern, gnadenlos in die Enge getrieben.

      Doch klingen meine Worte, als trauerte ich um das Hameln meiner Erinnerung? Das sollen sie nicht, keinesfalls. Ich ging fort, als ich gerade acht Lenze zählte, und nun, bei meiner Rückkehr, war ich zweiundzwanzig (und, nebenbei bemerkt, einer der jüngsten Ritter am Hofe des Herzogs). Meine Verbindung zu diesem entlegenen Ort war beendet, wäre es auf immer geblieben, hätte mich mein Herr nicht in persönlichem Auftrag entsandt. Aber ich schweife ab.

      Noch einmal besah ich mir das halbfertige Häusergewirr mit seinem Wald aus Pfählen, Steinhaufen und unvollendeten Mauerkronen. Das schneidende Klirren einer Schmiede drang von irgendwo aus dem Ruinenfeld – denn so will ich es wohl nennen, mochte hier auch geschaffen statt vernichtet werden. Die Arbeiten schienen nur schwerlich voranzugehen, was zu einem guten Teil am nimmer endenden Regen der vergangenen Wochen liegen mochte. Außer der Hauptstraße gab es in dem Grubengelände keine sichtbaren Wege, wohl aber erkannte ich ein weitläufiges Netz aus Balken und Bohlen, die man in dem vergeblichen Ansinnen über den Schlamm geworfen hatte, trockenen Fußes von einem Ort zum anderen zu gelangen. Ich sah einen Ochsenkarren, der am Rand der Straße stand und von zwei Tagelöhnern, über und über mit schwarzem Dreck beschmutzt, entladen wurde. Sie mussten die schwere Steinfracht an die hundert Schritt weit tragen, da der Karren im Gelände unweigerlich eingesunken wäre. Wen konnte es da wundern, dass die Bauarbeiten hier die doppelte Zeit in Anspruch nahmen als anderswo.

      Die Arbeiter sahen der aufgebrachten Menschenmenge missmutig nach, als diese mit dem Ketzer und den Schergen des Bischofs an der Spitze vorüberzog. Zweifellos wären auch sie gerne Zeugen des bevorstehenden Schauspiels geworden. Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen waren in jenen Zeiten noch nicht so verbreitet, wie sie es heute sind, nur wenige Jahrzehnte später. Sowohl den freien Bürgern der Städte als auch den Leibeigenen in den Dörfern galten sie stets als großes Spektakulum, das niemand gerne missen mochte.

      Auch ich lenkte mein Pferd im Schatten der Menge entlang der Hauptstraße, geradewegs durch das hässliche Ödland. Und während ich so mit einigem Abscheu in den Pfuhl der Baugruben blickte, der rechts und links vorüberzog, bemerkte ich erstmals die gewaltigen Ratten. Pechschwarze, glänzende Kreaturen mit tückischen Augen, manche lang und schwer wie kleine Hunde, die in Rudeln durch das kniehohe Wasser am Grunde der Gruben schnellten. Nicht einige wenige sah ich, nicht Dutzende, sondern – ja, ich schwöre es bei Gott – Hunderte von ihnen. Und je länger ich in den Schlick starrte, desto mehr Tiere hoben sich vom dunklen Boden ab. Ratten über Ratten, so weit das Auge reichte. Ich schauderte vor abgrundtiefem Ekel.

      Die Menschenmenge ergoss sich vor mir auf den Marktplatz wie wildes Wasser durch rissige Mauern. Der Platz selbst war wie eine steinerne Insel inmitten schwarzen Sumpfes. Die schlanke Spitze der Marktkirche ragte hoch über den Platz und das zweistöckige Rathaus hinaus. Beide waren zweifellos als erste Wahrzeichen der Stadthoheit errichtet worden, doch wirkten sie in dieser Umgebung eher wie Mast und Aufbauten eines sinkenden Schiffes. In Gedanken sah ich beides bereits vom Schlamm verschluckt.

      Mein Blick fiel auf zwei weitere markante Merkmale dieser ungemütlichen Örtlichkeit. Zum einen war da der Scheiterhaufen, den einige Männer soeben mit brennbarer Flüssigkeit begossen, damit er trotz des Regens Feuer fangen möge; man hatte das Holz rund um einen aufrechten Pfahl angehäuft, an dem man den Ketzer nun mit Hilfe eiserner Schellen verkettete.

      Das Zweite aber, was meine Aufmerksamkeit erregte, war in der Tat der auffälligste aller Anblicke. Eine enorme Bühne nahm die Westseite des Marktplatzes ein, aufgestellt in einem leichten Halbrund, sodass bei einer Aufführung die Zuschauer in vorderer Reihe beinahe von dem Geschehen umgeben waren. Hinzu kam, dass diese Bühne, gezimmert aus mächtigen Balken, drei übereinander liegende Stockwerke besaß und damit gar das Rathaus an Höhe überragte. Nie zuvor hatte ich eine so gigantische Konstruktion zum Zwecke eines Schauspiels gesehen, wenngleich ich gehört hatte, dass es dergleichen in Frankreich geben sollte. Daher erkannte ich auch sogleich den Zweck des ungeheuren Aufwands: Die Hamelner Bürger befanden sich inmitten der Vorbereitungen eines großen Mysterienspiels. Unter Einsatz aller Bewohner wurden Passagen aus der Heiligen Schrift nachgespielt, zumeist der Leidensweg des Heilands. Dabei standen die drei Stockwerke der Bühne für die drei Schichten unserer Welt – oben der Himmel, unten die Hölle, dazwischen die Länder der Menschen. Auf diese Weise vermochte man ein jedes Kapitel der Bibel, ganz gleich, an welchem Ort es sich begab, nachzustellen. Derlei Aufführungen nahmen meist Tage, oft gar viele Wochen in Anspruch, während derer mit Unterbrechungen gespielt wurde.

      Während ich noch beeindruckt auf die Mysterienbühne blickte, hatte mich mein Pferd in einem weiten Bogen bis ganz in die Nähe des Scheiterhaufens getragen. Ohne meine Absicht stand ich plötzlich erneut neben Einhard, dem Obersten der bischöflichen Schergen. Er schenkte mir ein spöttisches Grinsen, das mich von neuem gegen ihn aufbrachte, dann sah er hinauf zu einem Fenster des Rathauses. Ich folgte seinem Blick und erkannte dort mehrere Männer und Frauen, die hinab zur Menge lächelten. Zweifellos handelte es sich dabei um den Bürgermeister, den Stiftsvogt und andere Würdenträger mit ihren Weibern. Einer von ihnen machte Einhard ein Zeichen; jener wiederum gab zwei Männern am Fuß des Scheiterhaufens Befehl, mit ihren lodernen Fackeln Feuer ans Holz zu legen.

      Der Ketzer schwieg weiter und blickte aufrecht, fast hämisch mitten in die Menschenmenge, als wolle er sie selbst in seinen letzten Augenblicken verhöhnen. Viele Gesichter waren zu zornigen Grimassen verzerrt, Fäuste wurden geschwungen und Flüche gebrüllt. Der Mann auf dem Scheiterhaufen nahm all das mit einem überlegenen Lächeln zur Kenntnis, voller Stolz und Würde.

      Die ersten Flammen züngelten über das getränkte Holz, und bald schon umgab den Ketzer ein Ring aus prasselndem Feuer. Dunkler Rauch und Gluthitze wehten mit dem Regen in unsere Gesichter.

      Einhard

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