Bilder der Levante. Michael Jansen
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»Thawra, thawra!« (Revolution, Revolution!), antwortet die Menge. »Wir verlassen diesen Platz, wenn Mubarak Ägypten verlässt«, ruft Ahmad, ein Bursche mit Strickmütze. Junge Männer scharen sich um mich, um ihre Meinung zu äußern. Ahmad befiehlt: »Schreiben Sie, schreiben Sie auf, was wir sagen, erzählen Sie der Welt, dass wir Demokratie und Freiheit wollen. Keine Korruption mehr. Keinen Mubarak mehr.«
Karin Leukefeld, eine deutsche Kollegin, ist aus Damaskus gekommen und geht mit mir die zwanzig Minuten vom Hotel zum Tahrirplatz. Wir haben uns 2003 in Bagdad kennengelernt und seitdem in Irak, Ägypten und Syrien oft ein Team gebildet. Umgeben von protestierenden Professoren, die uns drängen, über ihre Ansichten zu berichten, werden wir selbst zu Studentinnen von Seminaren, die wir unter uns »Revolution 101« nennen. Uns begegnen ein nubischer Taxifahrer, der Geld braucht für die Diabetesmedikamente seiner Frau und die Ausbildung seines Sohnes. Ein Mann, voller Staub vom Tahrirplatz, der behauptet, Mubarak habe 70 Milliarden Dollar gestohlen. Als wir ihn fragen, woher er das wisse, antwortet er, aus dem Guardian, allerdings spricht er kein Englisch. Studenten, die ganze Nächte und Tage auf dem Platz verbringen, um die Besetzung durch das Volk aufrechtzuerhalten. Jeden Morgen gehen sie nach Hause, um zu duschen und sich zu rasieren.
Über uns fliegen Hubschrauber, ein Panzer fährt im Slalom über den Platz und wird von der Menge, die für den ächzenden Koloss zur Seite tritt, bejubelt. Die Menschen vom Tahrirplatz, die Tahriris, glauben, die Armee, die sich aus den Gefechten herausgehalten hat, stehe auf ihrer Seite und gegen Mubarak, gegen seine Sicherheitsleute und die baltagiya. Ein dünner Jugendlicher in rotem Hemd zeigt die Hülse einer scharfen Patrone vor, ein Mann hält mir eine Handvoll Gewehrpatronen hin. »Sehen Sie mal, die sind aus amreeka«, ruft er und hält die grüne Hülse hoch, um das Messingende zu zeigen: »USA«.
Männer mit salafistischen Bärten ohne Oberlippenbart und mit Bärten im Stil der Muslimbruderschaft, Nikabs und Hidschabs, Frauen mit Locken in Jeans und Pullovern, Junge, Alte und Menschen mittleren Alters, alle sind hier. Hier auf dem Tahrirplatz, zur Zeit der Befreiung.
Der Lärm von Kampfflugzeugen übertönt die Stimmen auf dem Tahrirplatz, wo Hunderte Richter für den Rückzug der Polizei demonstrieren und Untersuchungen zu Schüssen auf unbewaffnete Demonstranten fordern. Ghada Shahbender von der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte sagt, die Zahl der Toten belaufe sich in Kairo auf einhundert, in Alexandria auf dreißig und in Suez auf sechzig.
Die Ausgangssperre ab sechzehn Uhr wird ignoriert. Menschen sind zu allen Tages- und Nachtzeiten auf der Straße. Entlang der Straße des 26. Juli haben sich Nachbarschaftswachen aufgestellt, um mit Knüppeln und Gehstöcken Kriminelle und baltagiya zu vertreiben. Ein Mann in einer braunen Lederjacke, begleitet von einem großen Schäferhund, bietet mir an, mich sicher zur Residenz zu geleiten. Conor, der sich der Wache angeschlossen hat, sagt: »Wir haben Molotowcocktails und Besenstiele.«
Die Armee umringt den Tahrirplatz mit gepanzerten Mannschaftswagen, Spähwagen und Kampfpanzern, die im Tarnbeige der Wüste aus dem Stadtbild fallen. Sie kappt den Zugang mit Rollen von Klingendraht. Soldaten werden zu Torwächtern des Platzes, prüfen Ausweise, ohne Namen aufzuschreiben.
Flugdrachen in den Farben der ägyptischen Flagge sinken und steigen über der Kasr-el-Nil-Brücke. Straßenhändler verkaufen Fahnen, überdimensionierte Zylinder in Grün, Schwarz und Rot sowie T-Shirts. Jugendliche bieten an, winzige ägyptische Flaggen auf Wangen zu malen. Man könnte meinen, die Ägypter hätten sich seit Monaten oder Jahren auf eine Revolution vorbereitet und seien nicht von einem plötzlichen Aufstand überrascht worden. Der Organisator Sherif sagt, als über Facebook zu Demonstrationen am 25. Januar aufgerufen worden sei, hätten sie »fünfzig Leute hier und hundertfünfzig da« erwartet. Es kamen fünfzigtausend.
Jungen schieben Fahrräder, an den Lenkern Plastiktüten voller Styroporschachteln mit Geflügel und Nudeln, um die Menschenmenge mit Essen zu versorgen. Andere tragen Tüten mit runden Brotlaiben und verteilen Wasserflaschen. Am östlichen Ende des Platzes werden an behelfsmäßigen Ständern Porträts der in den Gefechten Umgekommenen befestigt, die wie Märtyrer gefeiert werden. Aktivisten stellen Zeichnungen des Tahrirplatzes aus und malen, auf dem Boden auf Kartonbögen kniend, Poster, die Mubaraks Amtsenthebung fordern. In der Nähe von Hardee’s-Schnellimbiss vor der Haupttribüne, wo Freiwillige die Tonanlage bedienen, bilden sich Schlangen; den ganzen Tag über erschallen spontane Reden über die Lautsprecher. Die Ägypter sagen ihre Meinung.
Restaurants und Geschäfte am Platz haben geschlossen, manche sind mit Rollläden verschlossen, andere nicht. Kein einziges ist beschädigt, kein Fenster eingeschlagen. In einem Zelt auf dem Verkehrskreisel ist ein Feldlazarett untergebracht, dort sagt ein Grafikdesigner, der sich nach dem altägyptischen Gott Horus nennt: »Zum ersten Mal seit dreißig Jahren sind wir stolz, Ägypter zu sein. Wir waren taub geworden. Jetzt können wir kaum glauben, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.«
Als wir wieder zur Kasr-el-Nil-Brücke gehen, ruft ein junger Mann in einem blauen Pulli Karin und mir hinterher: »Danke fürs Kommen!«, als hätten wir einer Teegesellschaft beigewohnt, nicht einer Revolution.
Organisatoren fordern einen »Marsch der Millionen« vom Tahrirplatz zum Präsidentenpalast in Heliopolis, doch das Militär blockiert den Weg. Wieder tritt Mubarak im Fernsehen auf, dieses Mal um elf Uhr abends, und verkündet, dass er nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren wird. Fassungslos buhen und pfeifen die Menschen auf dem Tahrirplatz ihn aus.
An der Uferpromenade versammeln sich Mubaraks Anhänger vor dem Gebäude des Staatsfernsehens. Ein Mann trägt einen ganzen Strauß von Flaggen an Stangen und verteilt sie an alle, die kommen. Abhängige Beamte und Arbeiter aus Fabriken, die Loyalisten gehören, unrasierte harte Männer von der inneren Sicherheit und Polizisten in Zivil. Wir eilen zurück in die Sicherheit des Tahrirplatzes.
Die Armee lockert ihren Griff um den Tahrirplatz und lässt zu, dass Mubaraks Männer auf Kamelen und Pferden, mit Peitschen und Knüppeln auf den Platz reiten. Sie werden von Demonstranten zurückgedrängt, die sich mit Schilden aus Wellkunststoff und Pflastersteinen bewaffnet haben. Der Zusammenstoß wird nach einer wichtigen Schlacht der islamischen Geschichte »Kamelschlacht« getauft. Am nächsten Morgen sind ordentliche Haufen grober Pflastersteine an strategischen Punkten rings um den Platz verteilt. Wachen trommeln rhythmisch auf hohlen Laternenpfosten, wann immer sich Schläger im Dienst des Regimes nähern. Männer bewaffnen sich mit blau ummantelten Aluminiumrohren von der Baustelle vor dem Ägyptischen Museum. Die Demonstranten, wütend darüber, dass die Soldaten und Panzer die Angreifer nicht aufgehalten haben, skandieren nicht mehr »Volk und Armee gehen Hand in Hand«.
Außer der Kasr-el-Nil-Brücke sind alle Zugänge zum Tahrirplatz gefährlich. In der Talaat-Harb-Straße und der Muhammad-Mahmud-Straße lauern Sicherheitsleute in Zivil, warten baltagiya und Lockspitzel auf Aktivisten und Journalisten. Ein französisches Fernsehteam wird verschleppt und stundenlang auf einer Polizeiwache