TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke. Charlotte Jaekel
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Utrecht, 14.12.2019
Beat Mazenauer
»Weg mit dem Gehüstel der Geschichtenerzähler« Thomas Meinecke – Poetik und Werk
In der Literaturzeitschrift »Akzente« beschrieb Thomas Meinecke 2016 einen seiner Arbeitstage. An dem besagten 10. Dezember 2015 rief als Erster der Anglist und Übersetzer Werner von Koppenfels an, um über einen gemeinsamen literarischen Abend zu D. H. Lawrence zu sprechen. Dabei kam das Gespräch auch auf den gemeinsamen Freund Marcel Beyer. Bis drei Uhr morgens, fährt der Text fort, habe der Autor noch für den im Entstehen begriffenen Roman »Selbst« (2016) eine Quelle abgetippt, um mit ein paar Bemerkungen überzuleiten zu einer Lesung mit Frank Witzel, für die er auf seiner »Facebook Wall« noch ein Velvet-Underground-Cover gepostet hat. Er würde, während Witzel vorliest, Schallplatten aus dem Jahr 1969 vorspielen. Damit ist Meinecke bei der Musik angelangt. Neben der Arbeit am Text für »Akzente« suchte er Platten für ein DJ Set zusammen – »Besonders schön: Levon Vincents neue 12-inch aus pinkem durchsichtigem Vinyl« –, danach würde er eine »Zündfunk«-Radiosendung vorbereiten und sich dann zu einem Gesprächsabend an der Ludwig-Maximilians-Universität aufmachen.1
Die zweitseitige Beschreibung klingt gänzlich unspektakulär und gibt vielleicht gerade deshalb Einblick in das Werk und Wirken Thomas Meineckes. Der gerafft wiedergegebene Tagesablauf demonstriert, wie sich bei ihm Grenzen auflösen und in ein fließendes Kontinuum geraten: Schreiben und Diskutieren, Literatur und Musik, Arbeit und Freundschaft. Abschließend weist auch der Titel der abendlichen Veranstaltung »Männer schreiben Frauen auf« darauf hin, dass Meinecke seit je die traditionellen Geschlechterrollen hinterfragt. In einem Video anlässlich einer Braunschweiger Poetikvorlesung im Mai 2019 bezeichnet er sich selbst als »feministischen Romancier«, der seit über 20 Jahren als Autor geprägt sei durch die Gender Studies, »wo die Idee einer geschlossenen Persönlichkeit, eines Subjekts, die einen Text verfasst, eigentlich auch unter die Lupe gelegt wird«.2
Im inzwischen legendären Essay »Cross the Border. Close the Gap« hielt der US-Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler 1968 den Vertretern der literarischen Moderne ein neues ästhetisches Konzept entgegen. Mit Rückgriff auf den französischen Trompeter, Sänger und Schriftsteller Boris Vian plädierte er für eine »Überbrückung der Kluft zwischen Eliten- und Massenkultur«, ohne sich vor den »Formen des Pop« wie Western, Science Fiction oder Pornografie zu scheuen. Es gelte die traditionelle ästhetische (Rang-)Ordnung zu zerschlagen, mit diesem Ziel sei die Pop Art »subversiv, ungeachtet ihrer erklärten Absichten, und eine Bedrohung für alle Hierarchien, weil sie wider die Ordnung ist«.3
Leslie A. Fiedlers Ruf nach einer ästhetischen und poetischen, zugleich »komischen, respektlosen und vulgären«4 Kritik erreichte die deutschsprachige Literatur schon vor Thomas Meinecke, doch in ihm hat sie ihren leidenschaftlichsten und konsequentesten Verfechter gefunden. 1994 erschien von ihm im »Spiegel Spezial« ein Aufsatz mit dem lakonischen Titel »Alles Mist«. Darin nimmt Meinecke, der wie Vian auch Trompete spielt und singt, Fiedlers Faden auf, allerdings argumentiert er nicht literarisch, sondern musikalisch. »Guter Pop war zu allen Zeiten ein Bastard, unrein, im besten Sinn volkstümlich, populär«, schreibt er und wendet sich so gegen »den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«. Der deutschen Musik, insbesondere der deutschen Volksmusik, falle es schwer, sich von traditionalistischen Sentimentalitäten zu trennen, weshalb alles Mist oder Kitsch sei, was in diesem Bereich produziert werde. »In Amerika haben sie das besser gemacht«, kommt Meinecke zum Kern der Sache. »Amerikanische Folkmusic, ob Jazz, Bluegrass oder Zydeco, entsteht gerade durch das Gegenteil von musealer Traditionspflege, chauvinistischer Wurzelsuche oder des bei uns so unheilvoll grassierenden Authentizitäts- und Identitätswahns, sondern vielmehr durch das Vertrauen auf produktive Missverständnisse, nicht zuletzt durch migratorische Entwurzelung.«5 Damit hat er den Dreh- und Angelpunkt auch seines eigenen Schaffens formuliert. Im Umfeld der Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«, für die er ab 1978 erste Texte schrieb, entstand 1980 die von Meinecke zusammen mit Michaela Melián, Justin Hoffmann und Wilfried Petzi gegründete Band »Freiwillige Selbstkontrolle«, später kurz F. S.K. Die Band bedient sich bis heute bei Pop-Elementen, experimentiert aber auch ausgeprägt mit volkstümlicher Musik. F. S.K. mischt respektlos Stile miteinander, um »Genres zu erneuern, Identitäten zu überschreiten« und so einen Pop zu schaffen, der von jeglichem Heimat-Purismus befreit ist. In den muttersprachlichen Texten findet F. S.K. nicht »unsere Identität«, wie Meinecke in »Alles Mist« schreibt, »sondern unsere Abweichung«, denn »Kultur darf niemals zu sich selber finden«.6
In einer Vorbemerkung zur Videoclip-Kompilation »Schule ohne Worte«, die Meinecke im Suhrkamp-Logbuch unterhält, wird der Stellenwert von Musik »als das Medium der Dislokation, Dekonstruktion vermeintlicher Mitten, als vorrangiger Impuls- und Taktgeber im Schaffen des popistischen Romanciers«7 betont. Das klingt programmatisch; entsprechend macht Thomas Meinecke die »Dekonstruktion vermeintlicher Mitten« auch in seinem Schreiben produktiv. Pop wird auch literarisch zur griffigen Formel für das Aufbrechen herkömmlicher Normen und ihre ästhetische Überholung, Pop fordert das beständige Hinterfragen von Identitäten und Geschlechterrollen. In seinem Verständnis markiert die Popkultur »eine Distanz zur Hochkultur«: Pop ist ein diagnostisches Instrument, das die Realität frei von elitärem Gehabe ins Visier nimmt und damit weit weg ist von dem, wie Meinecke 2008 in einem Interview sagt, ganz auf Affirmation angelegten »totalitären System« Pop.8
In dem Sinn verbindet sich Pop mit analytischer Schärfe. Meinecke driftet nicht auf den Oberflächen umher, wie es dem landläufigen Pop zum Vorwurf gemacht wird, sondern wirft seine Fangnetze in unergründete Tiefen, um Verschollenes, Verdrängtes, Verachtetes zu heben mit dem Ziel, das »Queerpotenzial« unserer hybriden Kultur zu erkennen und herauszuarbeiten. Pop meint hier, resolut die Ordnungsstrukturen zu hinterfragen und sie in einem literarischen Sound so subtil zu zitieren wie virtuos zu remixen. Das Wort »Gedanken-Pop«, das Jörg Drews in einer Rezension zu »Tomboy« verwendet, ritzt auch nur die Oberfläche. Thomas Meinecke zielt tiefer, analysiert die kulturelle Dichotomie von wertschätzender Traditionsorientierung und oberflächlicher Zeitgenossenschaft wie kaum ein anderer Autor und entlarvt sie als falsch. Insofern weist Pop bei ihm weit über die musikalische und literarische Genrefragen hinaus.
Resolut formuliert es Thomas Meinecke bereits in einem seiner frühesten Texte: »Neue Hinweise: Im Westeuropa Dämmerlicht 1981« für die »bohemistische« Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«. Zur Maxime erhebt er das