TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke. Charlotte Jaekel
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Mit dem Erscheinen von »Tomboy« erhielt Meinecke 1998 den Kranichsteiner Literaturpreis verliehen für einen »Erzählsound, der keinen Spannungsbogen mehr hat, sondern in einem sich ständig verändernden Energiefeld pulsiert«.21 Dieses musikalische Verfahren ist Ausdruck der tiefen Skepsis gegenüber jeglicher Originalität. Stattdessen vernetzt er eine Fülle von popistischen Motiven und dissidenten Themen, sodass sie über die Begrenzung eines Buches hinausweisen. Sex wird in »Tomboy« in erster Linie theoretisch/diskursiv vollzogen, was erzählpsychologisch enttäuschend sein mag, dafür geschärfte gesellschaftliche Relevanz erhält.
Was daran fasziniert (und etliche Kritiker auch irritiert) hat, ist dieser an den Rändern ausfransende Wald von Zeichen, Zitaten, Referenzen und Signalen, die sich zu einem kaum mehr überschaubaren Diskursmix formen, der nebst einer phallogozentrischen Versuchsanordnung am eigenen Körper auch angrenzende Themen wie Haute Couture, Ökofundamentalismus oder regionale Eigenheiten aus der Gegend um Heidelberg und Mannheim in den Blick fasst. Auf diesem geografischen Terrain begegnen sich Judith Butler, Ernst Bloch und BASF. Auf listige und witzige Weise verfolgt Meinecke so den doppelt subversiven Anspruch, den »grassierenden Authentizitäts- und Identitätswahn« (wie es schon in »Alles Mist« hieß22) infrage zu stellen und das Private diskursiv zu repolitisieren. Nur folgerichtig, dass er die Grenzen zwischen Literatur und Sampling, zwischen Belletristik und Diskurs verwischt.
Dabei verfolgt Thomas Meinecke keine essayistischen Ziele, wie er in einem Interview sagte: Er sei »heilfroh, wenn ich keine wissenschaftliche Conclusio finden muss. Dadurch kann ich alles schmetterlingshaft mal kurz miteinander befruchten, ohne dass es das von sich aus gewollt hätte.«23 In »Hellblau« (2001) perfektioniert Meinecke dieses poetologische Konzept. Für ein Buch über »ethnische Identität« forschen Tillmann und Yolanda an unterschiedlichen Orten in den USA und kommunizieren miteinander und mit Freunden zu Hause über Fax und E-Mail. Die Dekonstruktion der ethnischen Kategorien Weiß und Schwarz kristallisiert sich an der Frage: »Welche Farbe hat Mariah Carey?«24 Meinecke hat dazu auch einen gleichnamigen Song für F. S.K. geschrieben: »Dana International / Arabian boy a Jewish girl / gewann den Grand Prix de la Chanson / in eurovisueller Dekonstruktion«.25
Abermals entwirft er eine vielschichtige Textur, die Schnittstellen eröffnet zum Mythos des »Black Atlantic«, zum Underground-Techno, zum »white negro«, zur virulenten Verknüpfung von Antisemitismus und Antifeminismus bis hin zur Ambivalenz von Gedenken und Vergessen am Beispiel des Besuchs von Kohl und Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof. Die mündlich geprägte Form der Sprache in »Tomboy« hat hier einem komplexen schriftlichen Ausdruck Platz gemacht, mit dem die Erzählerfiguren miteinander kommunizieren. Dadurch wird alles Diskurs, unendlich verzweigt in einem virtuos unstrukturierten System von Theoremen, Konstrukten, Konzepten, Phänomenen und Gerüchten. »Hellblau« präsentiert sich als eine sich nach allen Seiten verzweigende rhizomatische (Hyper-)Textur, in deren Fülle an Referenzen unweigerlich die Gefahr des Verzettelns steckt. Doch wo die Inhalte auseinanderdriften, hält sie Meinecke mit seinem »Sound« formal zusammen, der in »Hellblau« auch thematisch einen breiten Raum einnimmt. Ins Zentrum des Diskurses rücken die Ikonen der amerikanischen Pop-Kultur, die jenseits des Mainstreams, also auch jenseits von Hollywood ihre Wirkung entfalten: Jazz, Rhythm & Blues, Ziegfeld Follies, Camp oder Chicago House und eben Mariah Carey.
An diese Schnittstellen schließt Meineckes vierter Roman »Musik« (2004) an; er schreibt die kulturologische Textur unter einem neuen programmatischen Titelbegriff und aus neu justierter Perspektive fort. Das symbiotische Geschwisterpaar Kandis und Karol reflektiert die Grenzen normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Während Karol seinen Lebensunterhalt im vorwiegend weiblich kodierten Beruf eines Flight Attendant verdient, arbeitet Kandis an einem Roman, oder eher einer »Mitschrift« von Lebensgeschichten, die sich an ihrem Geburtsdatum kristallisieren. Nebst ihr (und dem Autor Meinecke) sind am 25. August auch Ludwig II., Lola Montez oder Claudia Schiffer zur Welt gekommen, sowie Nietzsche oder die schwarze R&B-Sängerin Aaliyah verstorben. Letztere verbindet Kandis mit Karol, der sich speziell für die fließenden Übergänge zwischen Jazz, R&B, Rap und Techno interessiert.
In »Musik« rückt ein Begriff in den Fokus, der eigentlich das gesamte Werk Meineckes grundiert: Queerness. Die Praxis der Synthetisierung dissidenter Diskurse ist ein fortwährendes Überprüfen des »queer potential«, nach dem Motto: »Queerness bietet keine Identität, sondern bezeichnet vielmehr Strategien der Dekonstruktion«,26 mithin der Infragestellung der bürgerlichen Kodifizierungen in Lebenswelt und Kultur. Hierin gleichen sich »Queer« und »Pop« aufs Haar.
Thomas Meineckes Romane provozieren, indem sie die bewährten Kulturtechniken und Normen laufend hinterfragen. »Wir sollten unsere Verwendung des Eigenen, Fremden und Anderen einmal überprüfen«,27 regt er in »Hellblau« an. Daraus resultiert ein fließendes Kontinuum aus Brechungen und flüchtigen Zuständen, die während der Lektüre zu immer neuen, faszinierenden Assoziationsketten gerinnen, welche die Leser*innen in ihren persönlichen ethnischen, nationalen, sexuellen und kulturellen Definitionen herausfordern.
Meinecke verschiebt fortlaufend das Terrain seiner Recherchen und weitet sein Pop-Konzept immer stärker aus, um das Queer-Potenzial der Popkultur in der ganzen Breite auszuloten. »Dabei ließe sich ein intelligenter Remix durchaus auch als Agent eines fortschrittlichen Universalismus betrachten. Remake, Remodel, Remix«,28 so nochmals in »Hellblau«. Im Erzählband »Feldforschung« (2006) greift er sich einige Fallbeispiele heraus, mit denen er – ausgehend von Nachrichten und Geraune über Film- und Popstars wie Mae West, Richard Gere oder Patti Smith – neue Fragen zur Konstruktion von Identität und Geschlecht stellt. Er demonstriert dabei das Wechselspiel von Norm und Verstoß in den Inszenierungen des Pop in der Öffentlichkeit. Authentizität und Echtheit haben dabei als Kategorien der Wahrnehmung ausgedient, weil die fixen Zuordnungen längst erodiert sind. Eine der zentralen Erzählungen in »Feldforschung«, die Recherche über die Bluttat in einer Gay-Bar in Roanake (Virginia), streift auch religiöse Aspekte, die Meinecke in seinem nächsten Roman »Jungfrau« (2008) in die erweiterte Themenpalette aufnimmt. Darin rettet sich ein zölibatärer Theologiestudent vor der erotischen Anziehung einer Jazzpianistin ins Diskursive, wobei ihre intensiven Gespräche die Grenzen zwischen Kunst und Religion verwischen. Thomas Meinecke ist sich nicht zu schade, neben Judith Butlers »Gender Trouble« auch das mariologische Werk des Theologen Hans Urs von Balthasar zu rezipieren.
»If Art is the Catholicism of the Intellect, Drag is the Catholicism of Gayness«, hat Meinecke schon in »Feldforschung« einen Weblog zitiert.