Emmanuel Macron. Joseph de Weck
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Dem Land gehe es schlecht, so die veröffentlichte Meinung. Seit den 1970er Jahren hat Frankreich bekanntlich seine liebe Mühe mit dem globalen Kapitalismus. Der internationale Standortwettbewerb hat die steuerfinanzierte Umverteilungspolitik und den starken Schutz der Arbeitnehmer erschwert, auch das gut ausgebaute Gesundheitssystem kam unter Druck, was sich in der Pandemie gerächt hat. Die Abwanderung von Unternehmen, délocalisation genannt, weckt eine allgemeine Malaise.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat seit der Präsidentschaft Giscard d’Estaings (1974–1981) jede Regierung zu ihrer obersten Priorität erklärt. Doch mit wenig Erfolg. Frankreich ist im Grunde eine Gesellschaft von Anarchisten. «Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 258 Käsesorten gibt?», fragte einmal Charles de Gaulle. So fanden die Franzosen keine gemeinsame Antwort auf den globalen Wettbewerb, anders als die weniger individualistischen und stärker am Gemeinwesen orientierten Deutschen. Die Bundesrepublik zelebriert in Sonntagsreden den Wettbewerb, aber werktags verständigen sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften zum Beispiel darauf, Lohnzurückhaltung im Übermaß zu üben.
François Mitterrand versuchte es mit dem Sozialismus à la française, einem Mix aus Nationalisierungen, Senkung des Rentenalters, Arbeitszeitverkürzung und keynesianischer Konjunkturpolitik. Doch die Rechnung des studierten Literaturwissenschaftlers ging nicht auf. Das Land geriet noch stärker in Schieflage. Nach zwölf Jahren an der Macht stellte der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik 1993 resigniert fest: «Wir haben alles gegen die Arbeitslosigkeit versucht.»
Konservativ-liberale Regierungen hofften immer wieder, eine Schwächung des Arbeitnehmerschutzes und niedrigere Löhne würden die Leute wieder in Arbeit bringen, scheiterten jedoch mit ihren Reformplänen am Widerstand der Gewerkschaften, die jedes Mal die öffentliche Meinung für sich einnahmen und bei Bedarf das Land lahmlegten.
Die sozialistische Regierung unter Premierminister Lionel Jospin (1997–2002) setzte ein weiteres Mal auf großzügige Frührenten, und sie verkürzte die Wochenarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden. Schließlich aber strich auch Jospin die Segel, als der Reifen-Hersteller Michelin ein Werk schloss: «Man kann nicht alles vom Staat erwarten. Man kann die Wirtschaft nicht mehr allein mit Gesetzen und Texten regulieren.»
Die hohe Arbeitslosigkeit war und ist ein Drama für die Betroffenen — vor allem für die jüngere Generation, sie trägt die Hauptlast. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 bis 24 Jahre) fluktuiert seit den 1990er Jahren bei knapp 20 Prozent und erreichte nach der Finanzkrise 2009 sogar fast 25 Prozent. Im langjährigen Schnitt sind 8 Prozent der Gesamtbevölkerung erwerbslos.
Das Scheitern aller Regierungen legt den beschränkten Handlungsspielraum der Politik offen, ja ihre Machtlosigkeit. Das ist fatal für die Republik, denn das Land ist, im Unterschied zur deutschen Kulturnation, eine Staatsnation: Der Staat hat die Nation überhaupt erst geschaffen. Er ist die primäre Identifikationsgröße und ein idealistisches Projekt. L’État (den man mit großem E schreibt, obwohl die Sprache fast nur Kleinbuchstaben verwendet) soll den Franzosen Rechte und somit die Freiheit geben, nach ihrer Fasson zu leben; er soll umverteilen und dadurch Gerechtigkeit schaffen; und er soll die Bürgerinnen und Bürger «zusammenführen» (das Zauberwort rassembler), das heißt sie miteinander verbrüdern. Dazu gehört das in der französischen Verfassung verankerte Recht auf Arbeit, das auf die sozial-republikanische Revolution von 1848 zurückgeht. Aber wozu ist dieser Staat noch gut, wenn er die Lebensrealität der Franzosen nicht mehr zu gestalten und die Rechte, die er festschreibt, nicht durchzusetzen vermag?
DER 21. APRIL
So kam es 2002 zu dem Tag, der als le 21 avril in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Der sozialistische Kandidat Jospin, der gegen Amtsinhaber Jacques Chirac antritt, erhält bei der Präsidentschaftswahl im ersten Durchgang lediglich 16 Prozent der Stimmen. Der Kandidat des rechtspopulistischen Front National, der rechtskräftig verurteilte Antisemit Jean-Marie Le Pen, zieht in den zweiten Wahlgang gegen Chirac, der mit knapp 20 Prozent selber ein lamentables Ergebnis erzielt hat. Viele Franzosen erleben den Tag als nationales Trauma. Zwei Wochen später gewinnt Chirac den zweiten Wahlgang mit 82 Prozent der Stimmen, die Wahlbeteiligung liegt bei fast 80 Prozent.
Romane, Filme und unzählige Sachbücher haben seither das «politische Erdbeben» vom 21 avril aufgegriffen und zu deuten versucht. Das einhellige Urteil: Es lag an der desolaten wirtschaftlichen Lage.
Das im deutschen Sprachraum meistgelesene (wiewohl in Frankreich kaum bekannte) Buch zu der These «Armut schafft Unmut» ist Didier Eribons halb autobiographische, halb soziologische Studie Rückkehr nach Reims, 2009 erschienen. Der Marxist Eribon, der wie Macron aus dem deindustrialisierten Norden stammt, erläutert anhand seiner Familiengeschichte, warum vormals links wählende Arbeiter zum Front National (heute Rassemblement National) gewechselt sind.
Die Erklärung des Soziologen: Die linken Parteien verstünden Politik nicht länger als Klassenkampf; sie verfolgten einen wirtschaftsliberalen Kurs, sie hätten die Arbeiter fallengelassen. Es gebe mehr Armut und darum mehr Front-National-Wähler, so die schlichte These, verkürzt sie doch den Rechtspopulismus auf eine rein ökonomische Frage. Liberale und Rechte bleiben ihrerseits in dieser Logik gefangen, wenn sie die Gegenthese vertreten und die missliche Lage am Arbeitsmarkt auf die «Reformblockade» der Linken zurückführen.
Doch wirtschaftliche Aspekte sind offensichtlich nur ein Teil der Erklärung. Von Dänemark über die Schweiz und Österreich bis nach Ungarn und Polen: In den wirtschaftlich erfolgreichsten und sozial mobilsten Ländern Europas sind Rechtspopulisten zum Teil noch erfolgreicher als in Frankreich. Autoritarismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind für viele Zeitgenossen auch dann attraktiv, wenn sie gute Chancen auf eine sichere Stelle und sozialen Aufstieg haben. Eribon lässt dies übrigens selbst anklingen. Das Arbeitermilieu, dem er als Homosexueller nach Paris entfloh, sei dem konservativen Gesellschaftsbild der Rechten schon immer nahe gewesen, schreibt er. In der patriarchalen Arbeiterwelt mit sexistischen und rassistischen Reflexen sei der Kampf der Linken für die Rechte von Ausländern oder sexuellen Minderheiten auf Unverständnis gestoßen.
Trotz des ganzen Kraftaktes einer Post-Rationalisierung des Aufstiegs des Front National durch Frankreichs Intellektuelle: Richtig verarbeitet haben sie das «Erdbeben» trotzdem nie. Chirac, Sarkozy und Hollande: Seit dem 21 avril agierten auch Frankreichs Präsidenten in steter Angst vor den Rechtspopulisten. Und viele Franzosen fühlen sich als Opfer einer nicht enden wollenden Farce. Präsidenten kommen und gehen. Doch egal, wen das Volk wählt, ob links oder rechts, jede Regierung sieht sich gezwungen, wegen des wachsenden Schuldenbergs und der anhaltenden Schwäche der Wirtschaft Einschnitte am Sozialstaat hier und Abstriche an den Arbeitnehmerrechten dort vorzunehmen.
Das gibt Nahrung für das in Frankreich sehr präsente Narrativ eines déclassement: eines französischen Abstiegs in die zweite oder dritte Liga. Frankreich werde abgehängt, dem Land gehe es schlecht, so die von Buch zu Buch und von Leitartikel zu Leitartikel bekräftigte Dauermeinung. Streitschriften wie Der französische Selbstmord: 40 Jahre, die Frankreich zerstört haben30 werden zu Bestsellern. Jede literarische Saison bringt immer neue Variationen des Themas: Das französische Malheur, Frankreich stürzt ab, Besessen vom Niedergang — die Liste ist endlos. Rundfunksendungen widmen sich Fragen wie: «Kann es einem gut gehen in einem Land, dem es schlecht geht?»
Deutschland kommt hier eine besondere Rolle zu. Permanent wird der Vergleich mit dem großen Nachbarn am anderen Ufer des Rheins gesucht, ob es denn um Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, die Zahl der jährlichen Streiktage oder die der Patentanmeldungen geht. Rundum scheint die Bundesrepublik besser abzuschneiden. Selbst bei den Geburtenziffern — lange Frankreichs