Schmäh. Edwin Baumgartner

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Schmäh - Edwin Baumgartner

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sondern ein Schmäh.

      Darum kann ich Ihnen bei bestem Willen nicht in einem Satz sagen, was der Schmäh ist. Allenfalls erzählen kann ich es Ihnen. Dazu gehört, wie ich selbst zum Schmäh gekommen bin. Wie die Jungfrau zum Kind nämlich, so war das.

      Kennen Sie dieses Sprichwort überhaupt, zu etwas kommen „wie die Jungfrau zum Kind“? Die Jungfrau Maria, die mit mancherlei Stoßseufzern und Redewendungen in so vielen katholischen Mündern geführt wird, kam, ganz ohne eigenes Zutun im Umgang mit ihrem Verlobten Josef, durch den Heiligen Geist zum Kind. Wenn nun jemand meint, er sei zu etwas gekommen wie die Jungfrau zum Kind, dann heißt das, es habe sich so ergeben, durch höhere Fügung oder wie auch immer. Der Beglückte (oder fallweise auch Beunglückte) hat sich nicht darum gerissen.

      So, genau so, kam ich zum Schmäh. Jetzt. Aber es war mir schon zuvor einmal passiert – das erzähle ich Ihnen am Schluss des Kapitels. Man fängt schließlich nicht mit den Niederungen der eigenen Vergangenheit an, sondern mit den Höhepunkten der Gegenwart. Wie war das vor ein paar Wochen doch gleich gewesen? Da erinnere ich mich gerne zurück: Der Verleger selbst meinte, nur ich, ich ganz allein von – sagte er fünfhundert oder fünftausend Autoren (immer diese Gedächtnislücken)? – käme für die Aufgabe in Frage. Also fuhr er von München nach Wien im verlagseigenen Rolls Royce, selbstverständlich mit dem Ersten Chauffeur des Verlags, seit 23 Jahren unfallfrei. Er holte mich von meiner Grinzinger Villa ab …

      „Moment“, wirft die Lektorin meines Vertrauens ein, die mein guter Geist ist und mir immer dann über die Schulter schaut, wenn ich es gerade nicht merke. „Nein, warte“, sage ich und tippe weiter.

      … holte mich von meiner Grinzinger Villa ab, fuhr mit dem vom Ersten Chauffeur des Verlags gelenkten Rolls Royce und ihm, dem Verleger, und mir im Fond über die Ringstraße, holte aus der Minibar eine Flasche Dom Perignon Vintage 2002 heraus, schenkte in die Waterford-Champagnerflöten ein und begann, seine Überredungskünste an mir zu erproben. Nur zu gut wusste er, dass Schmäh und meine äußerste Seriosität nicht zusammenpassen. (Weshalb mir die Lektorin meines Vertrauens auf die Schulter klopft und laut atmet, weiß nur sie selbst.) Aber ich ließ mich auf das Verkaufsgespräch ein, und nachdem er mir schließlich angeboten hatte, ich könne das Buch in der verlagseigenen Villa auf den Bahamas schreiben (Personal inklusive, Kosten übernimmt der Verlag), willigte ich, trotz gewisser Bedenken, ein.

      In der nächstgelegenen Buchhandlung erstand ich Konrad Klönschnacks „Leitfaden zur Erlernung der humorvollen Erzählweise“ (Verlag am Misthaufen, Hühnergeschrei 2007), begann mit dem Selbststudium und strich gleich den zentralen Satz rot an, der lautet: „Bei einem Witz sparen Sie die Pointe bis zum Schluss auf. Erzählen Sie die Pointe am Beginn, könnten Sie nämlich unter Umständen Ihrer kleinen Geschichte die amüsante Note vorzeitig nehmen.“ Aber auf keiner der 376 Seiten findet sich etwas über das Schmähführen.

      „Fängst du schon im Vorwort mit dem Schmäh an?“, fragt die Lektorin meines Vertrauens, die mir immer noch über die Schulter schaut und gleichzeitig auf sie, die Schulter nämlich, draufklopft. „Wieso“, frage ich. „Das glaubt dir doch keiner“, sagt sie. „Es war einfach ein Anruf, und die Sache mit dem ,Leitfaden zur Erlernung der humorvollen Erzählweise‘ …“, sagt sie weiter.

      „Jo, eh“, sage ich. „Aber den Ort namens ,Hühnergeschrei‘ gibt’s wirklich im oberösterreichischen Mühlviertel, Postleitzahl 4121, und ich sehe gar nicht ein“, sage ich, „weshalb dort nicht ein ,Verlag am Misthaufen‘ einen ,Leitfaden zur Erlernung der humorvollen Erzählweise‘ herausbringen soll“, sage ich. „Jo, eh“, sagt die Lektorin meines Vertrauens.

      „Jo, eh“ muss ich den ausländischen Lesern erklären. „Jo, eh“ ist der rechte Schmäh als Einstieg in den Schmäh. Und unter ausländischen Lesern verstehe ich all jene Beklagenswerten, denen das Unglück zugestoßen ist, außerhalb der Stadtgrenzen Wiens geboren worden zu sein. Ein Niederösterreicher zum Beispiel ist, wienerisch gesehen, ein Ausländer. Ein Salzburger noch mehr. Von einem Vorarlberger fang’ ich jetzt gar nicht erst zu reden an. Die Ausländischkeit wächst mit der Entfernung vom Nabel der Welt, nämlich von Wien. „Jo, eh“ also heißt soviel wie: „Ich gebe zu, dass du recht hast, und die Sinnhaftigkeit deiner Aussage leuchtet mir auch durchaus ein, aber ich denke, ich werde sie dennoch ignorieren.“ „Jo, eh“ – zwei Wörter; hochdeutsche Formulierung – fünfundzwanzig Wörter. Der Ausländer (eben der außerhalb der Stadtgrenzen Wiens Geborene) versteht „jo, eh“ nicht, während der Wiener bei der hochdeutschen Formulierung allenfalls mit einem halben Ohr zuhört und sich fragt, wozu der ganze Wortschwall dient, wenn man einfach „jo, eh“ sagen könnte.

      Aber da bin ich jetzt beim eigentlichen Sinn dieses Kapitels. Ja, es hat wirklich einen, einen Sinn nämlich. Aber wenn ich ihn in der ersten Zeile darlegte und so weiterverführe im ganzen Buch, brauchte ich keinen einjährigen Arbeitsaufenthalt in der verlagseigenen Villa auf den Bahamas (jo, eh, oh Lektorin meines Vertrauens), da würde mir ein Wochenende in meiner Wiener Wohnung genügen. Und der Schmäh wäre auf sein Skelett abgemagert und somit kein Schmäh mehr.

      Viele Orte, an denen der Schmäh gediehen ist, gibt es gar nicht mehr: Das Milchgeschäft, das nur Milch und einfache Milchprodukte und vielleicht noch Semmeln verkaufte, die Greißlerei, wo meine Mutter Wurst, Gemüse und Obst holte, der Fleischhauer und das Fischgeschäft zwei Häuser weiter – und natürlich das Modegeschäft von der Frau Schuller. Ja, die hat es wirklich gegeben, die Frau Schuller, und sie war eine begnadete Schmähführerin. Je länger ich an diesem Buch geschrieben habe (diesen Satz können Sie als Hinweis lesen, dass dieses Kapitel, zumindest in größeren Teilen, am Schluss entstanden ist – wie das oft vorkommt bei ersten Kapiteln), desto mehr ist mir aufgefallen, wie sehr es auch eine Reise in meine eigene Kindheit und Jugend ist, als der Schmäh noch wirklich rannte, weil die Menschen einander immer wieder begegneten im Grätzl1 und einander immer etwas zu erzählen hatten, die kleinen Dinge, die ganz groß sein können. Da kommt es nur auf den Blickwinkel an. Gelebtes Facebook war das, nur mit weniger Verbissenheit und Selbstbeschau.

      Zurück zum Sinn dieses Kapitels, das so quasi ein Vorwort ist, das ich aber nicht Vorwort nenne, weil ich zu den Lesern gehöre, die Vorworte erst zum Schluss lesen. Bestenfalls. Doch dieser um Verzeihung heischende Hinweis ist lesenswichtig: Ohne Wiener Dialekt geht’s nicht, zumindest nicht immer. Leider. Ich hab’s versucht mit konsequentem Hochdeutsch, aber ich bin gescheitert. „Owa des woa nix“, wie man auf Wienerisch sagt. Wieso nicht, werde ich versuchen, an einem Beispiel zu erklären.

      H. C. Artmann wird uns in diesem Buch noch öfter begegnen. Artmann war einer der größten Dichter, die Österreich in der Nachkriegszeit hatte. Außerdem war er ein begnadeter Schmähbruder, also einer, der seine Freunde und Leser am Schmäh halten konnte. (Was ein Schmähbruder ist und wie man am Schmäh gehalten wird und so weiter – nicht so ungeduldig, wir haben dazu ja ein ganzes Buch vor uns!) Jener Artmann schrieb 1958 seinen Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“, in dem er die Dialektdichtung revolutionierte, auch im Schriftbild.

      Schauen Sie, jetzt muss ich wieder was dazwischenschieben. Aber so ist das beim Schmäh. Was ganz geradlinig verläuft, ist kein Schmäh. Beim Schmähführen ergibt ein Wort das andere, und es kann da schon passieren, dass man bei einer G’schicht über einen vegetarischen Würstelstand anfängt und bei einer scheenen Leich’ am Zentralfriedhof endet, ohne dass, wider Erwarten, das eine mit dem anderen ursächlich was zu tun hätte.

      So komm’ ich jetzt von H. C. Artmann auf den Dichter Ernst Kein, und das hat sogar etwas miteinander zu tun. Wenn Martin Luther seinerzeit dem Volk aufs Maul geschaut hat, so hat das Kein bei den Wienern gemacht. Und was dort herausgekommen ist, hat Kein aufgeschrieben. Oder er hat es so gedichtet, als wäre es dort herausgekommen. Für die Übertragung des gesprochenen Wienerischen in die Schrift hat Kein auf alle phonetischen Zusatzzeichen verzichtet. Das schaut ein bisserl komisch aus beim ersten Lesen, so, als wär’s gar nicht Deutsch, sondern irgendeine Fremdsprache, die

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