Hannah und die Anderen. Adriana Stern
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Mit Vater über Politik zu streiten mag ja bis zu einem gewissen Grad tatsächlich Spaß machen, aber teilweise hat der Typ dermaßen rückständige Überzeugungen, dass man sich wirklich schämt, sein Kind zu sein.
Letztens zum Beispiel behauptet er doch glatt, nur Arbeitslose und Sozialschwache und Alkoholiker würden ihren Kindern Gewalt antun. Er hat sogar auf einem Kongress, wo es um Gewalt in der Familie geht, ein Referat gehalten, wo er das wissenschaftlich, man stelle sich vor: wissenschaftlich nachgewiesen hat, dass Gewalt an Kindern in Mittel- und Oberschichtsfamilien nur einen geringen Bruchteil ausmacht.
Vorher hat er Miriam das Referat zum Lesen gegeben – und jetzt halte dich fest, Klara – Miriam hat doch glatt gesagt: »Mensch, Papa, bin ich froh, dass ich nicht solche Eltern habe.« Also, tut mir Leid, aber da hat es mir dann gereicht. Ich sie also weggeschubst und dann mit Vater mal ein paar ernste Worte gewechselt – von wegen keine Gewalt in Mittelschichts- und Oberschichtsfamilien.
Dann ist Vater ziemlich wütend geworden. Also, bei ihm sieht das ja so aus, dass man das nicht an seiner Lautstärke merkt oder so. Er wird im Gegenteil dann immer total ruhig – so dass einem himmelangst wird – wie vor einem tierischen Sturm, wo dann die Vögel aufhören zu singen und die Luft vor Spannung zu knistern beginnt und die Leute auf der Straße ganz still werden und wirklich jegliche Unterhaltung einstellen. Ja, also Vater wird dann genau so, dass einem angst und bange wird. Dann färbt sich sein Gesicht langsam rot und er schiebt im Zeitlupentempo seine Brille von der Nase hoch auf die Stirn. Seine Stimme wird dann gefährlich leise und er sagt: »Wer bist du eigentlich, dass du so mit deinem Vater sprichst?« Dann fasst er mich voll brutal an den Schultern und schüttelt mich, dass mir echt ganz anders wird – von wegen keine Gewalt gegen Kinder in Mittelschichtsfamilien.
»Wer bist du«, hat er dann geflüstert, »dass du es wagst, derart mit deinem Vater zu sprechen?«
»Jurek«, habe ich geantwortet, und er sagt: »Aha, dann zieh dich schon mal aus, ich hole inzwischen ein paar Dinge, damit du eine Ahnung davon bekommst, was Gewalt ist und wovon wir hier gerade reden. Und danach schreibst du einen Aufsatz darüber, haben wir uns verstanden?« Ich hab bloß genickt, und kaum ist der Typ zum Zimmer raus, habe ich gemacht, dass ich wegkomme.
Am nächsten Morgen in der Schule tat mir alles weh und beim Sportunterricht wollte ich mich nicht ausziehen. Ich hatte den ganzen Rücken und die Oberschenkel blau bis grün – netter Regenbogen, wirklich – wer hat so was schon persönlich auf seiner eigenen Haut! In der Dusche bekam ich fast einen Herzinfarkt. So schlimm hatte ich mir das gar nicht vorgestellt.
Der Sportlehrer hat’s dummerweise auch gesehen und ich hatte ein Gespräch mit Frau Liesban. Inhalt? Keine Ahnung, weiß ich echt nicht.
Scheiße, ich habe irgendwie mal wieder den Faden verloren.
Ach, ich glaube, es ging um meine neue Redseligkeit. Vielleicht liegt es auch an meinem neuen Klassenlehrer, Herrn Kuck, der ist schon irgendwie echt toll drauf. Im Unterricht macht er so abgefahrene Sachen in Deutsch – aber auch in den anderen Fächern, das ist richtig gut. Ich traue mich vielleicht deshalb mehr. Was vor allem echt toll an ihm ist, dass er mich völlig in Ruhe lässt, wenn ich mal wieder ›abwesend‹ bin, wie man so schön sagt. Er stört mich dann nicht oder versucht, mich auf frischer Tat dabei zu ertappen, dass ich gerade nicht aufgepasst habe, wie es vor ihm schon etliche Lehrer getan haben. Er versteht es einfach und lässt mich machen.
Das Einzige, was ein bisschen komisch ist, dass er denkt, dass ich voll die tolle Sozialarbeiterin oder Psychologin oder so etwas bin. Weil er dann Mädchen mit Selbstmordgedanken oder Problemen zu Hause zu mir schickt und tatsächlich glaubt, ich könne denen helfen. Irgendwie rede ich dann auch mit ihnen – ich weiß nicht was –, und den Mädchen geht es wirklich besser danach. Ich versuche dann, stolz auf mich zu sein, Herr Kuck ist es auf jeden Fall, aber ehrlich gesagt macht mir das Angst mit den drei Schülerinnen, mit denen ich bisher gesprochen habe. Aber das traue ich mich natürlich nicht Herrn Kuck zu sagen. Ich bin ja froh, dass er nicht so scheiße von mir denkt.
Weißt du was? Ich finde, ich schreibe irgendwie viel zu wenig über mich, ich meine darüber, wie es mir wirklich geht. Für so vieles habe ich keine Worte, es gibt keine. Und viel zu oft weiß ich überhaupt keinen Grund dafür, warum ich mich schlecht fühle, aber auch nicht, warum ich mich gut fühle. Eigentlich beobachte und analysiere ich mich ständig. Meinst du, das ist in meinem Alter ganz normal? Irgendwie kann ich über solche Fragen echt mit niemandem reden. Manchmal habe ich das Gefühl, von einem völlig anderen Planeten zu kommen.
Wir haben seit einem Monat ein neues Mädchen in der Klasse. Ich glaube, sie ist nett. Sie kommt aus München und ist neu hierher gezogen, weil ihre Mutter hier eine Stelle gefunden hat. Sie spricht so klar und direkt über sich selbst und mit anderen und hat sehr viel Humor und ist trotzdem auch tiefsinnig und ernsthaft. Sie ist wirklich gut drauf, glaube ich. Ich würde sie so gerne ansprechen, aber ich traue mich nicht.
Ich wäre wirklich gerne so wie sie. Sie ist so selbstbewusst und redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und scheint überhaupt vor nichts Angst zu haben. Ich meine vor allem nicht davor, wie andere über sie denken könnten. Letzte Woche hat sie mich angelacht und ist mit ihren Schulsachen einfach auf den leeren Platz neben meinem gezogen. »Was dagegen, eine neue Nachbarin zu bekommen?«, hat sie gefragt und mich ganz spitzbübisch angesehen dabei. Und ich Idiot habe nur den Kopf geschüttelt. Na ja, jetzt sitzt sie jedenfalls neben mir und ich bin froh darüber.
Ach, könnte ich doch so reden und mich ausdrücken wie sie. Ich glaube, das ist im Moment fast mein allergrößter Wunsch.
Warum nur bin ich nicht so wie sie? Warum gibt es niemanden, mit dem ich wirklich über mich reden kann? Und wieso habe ich so große Angst davor? Ich will das nicht mehr! Niemand weiß, wie ich wirklich bin.
Warum verhält man sich nicht so, wie man ist? Warum ist man nicht einfach so, wie man ist? Vor wem müssen wir uns denn verstecken?
Ich bin so oft überhaupt nicht ich selbst, ich halte das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr. Kannst du das denn nicht verstehen, Klara? Ich will, ich will sofort anders sein!
So, jetzt ist eine Stunde vergangen. Ich habe den Stift erst mal zur Seite gefeuert und geheult wie ein Schlosshund. Und jetzt geht es schon wieder.
Also wirklich. Dass ich vor Selbstmitleid nicht zerflossen bin! Es tut mir Leid. Ist ja alles Blödsinn. Ich kenne mich eben nur nicht mehr so richtig (aus). Nimm’s mir nicht so übel. Ich habe das Gefühl (das Gefühl, wie gesagt), ich bin etwas auf die schiefe Bahn geraten. Wie komme ich nur dazu?
Ich finde einfach keine Worte für meine Gedanken. Am besten male ich nur noch und spreche überhaupt nicht mehr. Im Kunstunterricht lebe ich. Es ist die einzige Zeit, in der ich mich wirklich lebendig fühle. Ich spreche nicht mit Worten, ich spreche mit Farben und Formen. Mein Kunstlehrer hält mich für sehr begabt. Er fährt wirklich total auf meine Bilder ab. Aber ich, ich kann meinen Schmerz, meine Wut, all meine Gefühle nicht mal annähernd deutlich aufs Papier bringen, obwohl mein Lehrer sagt, er hätte selten ausdrucksstärkere und emotionalere Bilder gesehen als meine.
Es gibt ein Bild, das wir uns letzte Woche angesehen haben im Kunstunterricht. Es heißt ›Der Schrei‹ oder ›Der Schrei auf der Brücke‹. Und genau so fühle ich mich oft. Genau so will ich malen. Ich könnte schreien, schreien, schreien und ich würde bestimmt niemals damit aufhören, wenn ich nur einmal damit angefangen habe. Meinem Kunstlehrer habe ich erzählt, dass ich mit meinem Namen überhaupt nichts anfangen