Augenzeugenbericht des Häftling Nr. 738 im KZ Buchenwald 1937–1945. Alfred Michael Andreas Bunzol
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Es waren wie immer alle Familienangehörigen anwesend. Auch Tante Mischa, die Schwester von Mutter, und Onkel Albert. Sie wohnten in Düsseldorf, der damaligen BRD. Da wir sie nicht besuchen konnten, Reisemöglichkeiten waren ja für uns DDR Bürger stark beschnitten. Nur den Rentnern in der DDR ging es gut. Sie konnten in den Westen reisen. Mit 10 DM Reisegeld! Wir als Nichtrentner mit gewissen Hindernissen nur in die Ostblockstaaten. So kamen sie eben jedes Jahr zu uns. Oft auch zweimal im Jahr, meist über Weihnachten und Silvester. Das „Westpäckchen“ oder die „Westgeschenke“ bildeten für uns dann oft den absoluten Höhepunkt zum Weihnachtsfest. Vor allen für die Kinder. Bei solchen Feiern ging es immer sehr lustig zu und jeder hat sich auf den anderen gefreut. Sie haben sich auch immer im „Osten“ wohlgefühlt. Vielleicht war es für sie das andere Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie, die Lebensweise der Menschen des Ostens. Der Geschmack des Ostens. Für uns war die Ost West Situation eben so wie sie damals war und man nahm sie, als nicht erfreuliche, aber auch nicht zu ändernde, als eine der vielen unsinnigen politischen Gegebenheiten hin. Reisen in den Westen waren eben für uns „Nichtrentner“ tabu. Aber dies nur am Rande. „Im 2. Teil der Familiengeschichte werde ich ihr Leben nach der Kriegsteilung Deutschlands und dessen Wiederaufbau nach zwei Strickmustern in Ost- und Westdeutschland und wie sie damit zu Recht kam noch genauer und ausführlich schildern. Selbstverständlich werde ich euch auch davon berichten, was für uns damals die Freundschaft zur Sowjetunion, DSF, SED, HO, Konsum, der Intershop mit seinem eigenartigen Geruch, Westgeld, GST, NVA, Panzerbüchsenschütze II, Pioniere, FDJ, Trabi oder Liebe, Pille und Ehei ….. bedeutete. Erzähle Euch, wo und warum ich studierte, daß ich oft mit einem lauen Gefühl im Magen zur Uni ging, weil ich nicht gelernt hatte, oder zu faul dazu war. Werde euch beschreiben, wie sich die Welt für mich anfühlt und anfühlte. Werde euch informieren über die alltägliche Lebensweise in der DDR, in der Wendezeit, über die heutige in der BRD. Nicht aus der Sicht eines Krugs, Maske, Witt, Biermann und Haagen oder wie sie alle heißen mögen! Deren Leben und Lebenswandel haben und hatten gestern wie heute mit dem meinen, und ich denke mit dem der meisten Otto Normalverbraucher, nicht das Geringste zu tun. Für sie sind es immer wieder die gleichen Schickiterrias wo sie zu sitzen pflegen und meinen, sie sind die besseren Menschen. Wenig hat sich für sie geändert, nur ihr Auftreten um Aufmerksamkeit zu erlangen und die Menge an Geld welches sie dafür bekommen, da es genug andere „Dumme“ gibt, denen sie ihre Märchen auftischen können. Da werden sie für etwas geehrt, was nicht selten leider auch ziemlich geistlos war oder ist. Aber es ist eben alles eine Geschmackssache. Wer kennt sich nicht alles aus in dieser Welt der Schickimickis, träumt womöglich im Stillen von ihr? Na ja! Wo, außer in einigen wenigen Museen oder Dokumentationen, können Eltern ihren Kindern noch zeigen, wie es damals war, in der DDR, in der Wendezeit? Der Mensch vergisst eben! Doch lest erst mal den 1. Teil und freut euch dann auf Teil 2!“
Irgendwie kam an diesen Abend, übrigens zum ersten Mal bei all den vielen Besuchen, das Gespräch auf unseren Vater. Mutter sagte was er für ein aufrechter Kommunist war. Da lachte Tante Mischa. Sie hatte immer so eine aufrichtige und offene, manchmal derbe Art sich zu Äußern. Auf keinen Fall aber eine unsympatische. Oft lachten wir, wenn sie sich in Ihrer Art mit Onkel Albert stritt. Er hatte ganz schönen Dampf vor Ihr. Sie sagte zu Ihrer Schwester: „Meinst Du etwa diesen Feigling, der sich durch Selbstmord aus den Staub gemacht hat und Dich mit den vier Kindern zurückließ. Aufrechter Kommunist, da kann ich nur lachen. Hätte er sich lieber um Euch gekümmert, statt um seinen scheiß Kommunismus“. Für mich schlug diese Behauptung wie eine Bombe ein. Ich sagte zu Tante Mischa: „Wieso, er ist doch durch einen Autounfall gestorben“. Es war übrigens mein einziger Kommentar an diesem Abend zu diesem Thema. Auch hat es keiner der Gäste groß mitbekommen. Ha, sagte sie, frage doch Deine Mutter. Mutter sagte, jaaa er hat Selbstmord begangen. Sie sagte es so, als wenn es vollkommen selbstverständlich war und wir es doch wüsten. Irgendwie ging an diesen Abend ein Knacks durch die Mutter-, Sohn Beziehung. Ich konnte es nicht verstehen, daß sie uns so belogen hat. Als wir kleine Kinder waren erscheint es mir sinnvoll, daß sie es uns so sagte, es war ok. Wir waren aber jetzt 40 und hatten ein Recht auf die Wahrheit gehabt. Ob Autounfall oder Selbstmord, es war mir zum damaligen Zeitpunkt relative schnuppe, aber nicht die Lüge von Mutter. Ich war innerlich stocksauer und irgendwie hat diese Wahrheit, mehr die Lügen der Mutter mich an diesen Abend aus der Bahn geworfen. Ich trank mir einen an, verlor sprichwörtlich die Orientierung, hatte dabei aber keinen Filmriss, und landete statt im Bett im „Rosenbeet“. War natürlich Blödsinn, ist aber halt passiert. War vielleicht auch Sauer darüber, das sie mir einen Flirt mit Iris vermiest hat, der den Tag so schön hat beginnen lassen. Wir kennen uns schon ein Leben lang, wohnen in der gleichen Straße. Mann kann einer Frau ansehen, ob er Chancen bei ihr hat oder nicht! Ich glaube, ich habe sie. Eigentlich wollte ich mit ihr an diesen Abend nur ein bisschen Spaß haben, ohne Hintergedanken. Es einfach mitnehmen. Einen kleinen Flirt, ein kleines Vergnügen, ein Ausbruch aus dem Alltag. Eben eine kleine Affäre am Rande. Doch schon am späten Abend ging sie so schnell zu Ende, wie sie am Nachmittag begonnen hatte. Aber was soll es, es war ein Abend voller Ereignisse für mich. Das sind meine Erinnerungen über den Abend als ich erfuhr, dass mein Vater „Selbstmord“ begangen hat. Ich beschreibe ihn so, wie er war.
Im Nachlass von Mutter fand ich auch einen Brief der verdeutlichte, dass die Enthüllungen dieses Tages, dass sie ihren Kindern nicht die Wahrheit gesagt hat, ihr schwer zu schaffen machte. Dieser Brief von ihr hat mich emonzional sehr berührt und traurig gemacht. Trotzdem war ich über Mutter etwas böse, warum hat sie mit ihren Kindern nicht so offen wie in diesem Brief gesprochen. Man hätte vieles klären können. Zumal die Nachforschungen ergaben, dass sie nach dem „Selbstmord“ ihres Mannes, über Nacht, ohne jegliche Absicherung dastand. Schwanger, mit 3 kleinen Kindern! Sie bedroht und erpresst wurde, die wahren Gründe dieser Tat zu verschweigen und zu ignorieren. Ihr nichts anderes übrig blieb, als nach Großrudestedt zu ihren Eltern zu ziehen. Sie um den Unterhalt für ihre Kinder kämpfen musste. Erst im Jahre 1954 wurde eine VDNii Rente in Höhe von 105,00 DM für Jutta, Rosel und später für mich genehmigt. Alle anderen Anträge von Ihr wurden abgelehnt. Sie hat hart dafür gekämpft, was mehr als nur meinen Respekt verdient. Wenn ich hier sitze und diese Zeilen schreibe sehe ich sie oft vor mir, die kleine Mutter, die kleine Käte, wie sie verstand um ihre Rechte zu kämpfen, vor allem für die ihrer Kinder. Ich würde sie jetzt gern in die Arme nehmen und Danke sagen. Sie ist meine Mutter, auch wenn ich dieses Jahr 54 geworden bin. Eigene Kinder habe, Enkelkinder. So werde ich trotzdem immer in meinem inneren ihr Kind bleiben. Dies alles dient mir auch als Ansporn, um endlich Licht ins Dunkle zu bringen. Falls dies überhaupt noch möglich ist. Bei all meinen Nachforschungen habe ich gemerkt, daß 100 Jahre in der Geschichte rückwärts eine Ewigkeit sein kann und es schwer ist noch etwas herauszufinden. Aber auf keinen Fall unmöglich. Denn etwas herauszufinden, ohne es zu suchen, ist schwer und unmöglich. Jede Familie hat ihre eigene Geschichte. Diese Erzählung enthält ein Stück unserer Geschichte. Sie versucht unserer Familie ein Gesicht zu geben. Unsere Lebensweise von heute mag vollständig anders sein als die unserer Vorfahren, aber unsere Ängste, Wünsche und Hoffnungen sind eigentlich die gleichen geblieben. Das habe ich beim schreiben gemerkt.
Um mir ein besseres Bild über Vater zu machen sprach ich per Telefon mit dem Zeitzeugen Herr R. über Bunzol. Er kannte den Bunzol nur 3 Monate aus Block 17 in Buchenwald, wo der Bunzol als Blockältester Vertretung machen mußte. Herr R. war zu dieser Zeit Blockschreiber im Block 17. (Blockältester aus 17 wurde kurzzeitig von SS inhaftiert und verhört) R. war nach der Befreiung bis zu seiner Pensionierung bei der Kripo in Weimar, Bunzol war bei der VP (PK Leiter).