Sonnseitig. Schattseitig.. Anna Aldrian

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Sonnseitig. Schattseitig. - Anna Aldrian

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Ich ging mit der Schwägerin hinaus, holte meinen flachen CD-Player und die CD mit den „Moments Musicaux“, die es inzwischen von János Kahn eingespielt gab.

      Eine paradoxe Konkurrenzsituation am Sterbebett: Thresl würde sich durch nichts hindern lassen, die Nacht durchzubeten, ich aber musste Schubert spielen. Deswegen war ich gekommen.

      Es ging ganz einfach. Thresl hatte ein Versehkreuz aufgestellt, die zwei Kerzen angezündet und murmelte in ihrem eigentümlichen Singsang ihre „Gegrüßet seist du, Maria“. Grad so, wie ich das aus meiner Kindheit kannte. Damals hieß es noch „… in der Stunde unseres Absterbens“ statt „unseres Todes“. Die vertrauten Worte halfen mir über die aufkommende Panik hinweg.

      Fremd, so fremd war mir dieses bleiche Gesicht auf dem Polster. Die Wangen eingefallen, die Nase so spitz, die Augen so tief in den Höhlen. Weißlich-graue Haarsträhnen lagen erschreckend dünn über einer papierenen Kopfhaut. Ich hatte die Tante Pepi nie ohne Kopftuch gesehen, außer bei dem einen Mal, beim Konzert.

      Bang drückte ich auf die Play-Taste. Thresl war fast taub, die Musik würde sie nicht stören. Aber Tante Pepi? Nimmt sie noch etwas wahr?

      Mit dem Eingangsmotiv klopfte das erste „Moment Musical“ insistierend an das sterbensmüde Gehirn unter dem kopftuchlosen Schädel. Konnte sie das hören? Da hob Pepi mit großer Mühe die halb geschlossenen Lider, sah mich an und flüsterte tonlos: „Dankschön.“ – Oder nur „schön“ – oder „Schubert“?

      Tok-tohk, tok-tohk. Nie vorher hatte ich diese C-Dur-Herzklopf-Sequenz im ersten „Moment Musical“ wahrgenommen. Jetzt hörte ich das Pochen unter jeder Phrasierung heraus – eindringlich oder kaum vernehmbar, stolpernd oder hämmernd, sich wieder verlierend. Ein Herz, das dabei ist, das Schlagen aufzugeben.

      „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns!“

      Das Andantino todtraurig. Ein Erschrecken beim Wechsel von a-Moll in fis-Moll. Noch atmete sie, noch hörte sie zu. Mit einem Satz hüpfte das klopfende Herz in den Tanzrhythmus des Allegro moderato. Lass es noch einmal mitschwingen, Tante Pepi! Du hattest nie einen Tänzer, aber getanzt hast du. Bei den Hochzeiten der anderen. Allein. Vehement drängte sich mir ein Bild auf: Ich seh dich, Tante Pepi, mit einem gefüllten Weinkrug auf dem Kopf. Du hast dich im Takt gewiegt dabei, keinen Tropfen verschüttet. Alles Ungeschlachte war von deinem Körper abgefallen. Hoch aufgerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt, hast du die Schritte gesetzt, als gingest du mit einem Korb auf dem Kopf über die Weinhügel in die Bezirksstadt, um Eier, Kirschen, Äpfel, Doppelgebrannten zu verkaufen. Du hättest dich zu diesem Allegro moderato gedreht, als wäre es für dich komponiert worden, beschwingt und fröhlich auf dem Untergrund deiner Lebensmelodie in Moll.

      Darum wolltest du Schubert zum Sterben?

      Während des c-Moll-Moderatos, wo Schubert gleichmäßig perlend wie Bach klingt, wurde der Atem der Sterbenden ruhiger, leichter. Ihre Augen suchten meine. Oder bildete ich mir das nur ein? Mich packte die Angst, es könnte der letzte klare Blick sein. Ein neues Motiv schob sich über die kristallklaren Läufe: ein rhythmisches Sich-Fallenlassen, Hochschnellen, erneutes Fallen. Unerbittlich. Herzweh, das mir die Kehle abschnürte.

      „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.“ Die Thresl war etwas lauter geworden, ich hatte ihr Murmeln nicht mehr wahrgenommen.

      Das Allegro vivace übertönte es. Zu laut, zu dramatisch, zu viel panischer Herzschlag. Verzweiflung im Marschrhythmus. Erschrocken drehte ich leiser.

      Mit dem Allegretto pendelte sich die Musik monoton melancholisch ein. Ich griff nach Tante Pepis Hand, spürte einen leichten Druck. Thresls Singsang und das plötzlich einsetzende rasselnde Atmen der Sterbenden übertönten das gedämpfte, sich von aller Schwere lösende, in den Schluss verlierende letzte „Moment Musical“.

      „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen.“

      VI

      Herzschlag

      Für Tante Pepi musste es die Schubertmesse sein. Unüblich, aber ich hatte darauf bestanden. Die Kirche war voll, bei uns nimmt man es noch genau mit den Verpflichtungen innerhalb der Verwandtschaft; väterlicherseits und mütterlicherseits machte die Sippe einen guten Teil der Dorfbevölkerung aus, dazu die Nachbarn und die Bäurinnen von der Frauenbewegung. Viele Begräbnisleute für eine, die das ganze Leben eine „Dirn“ war, eine Magd, deren Wert nur in ihrer Arbeitskraft bestanden hatte.

      Der Zug mit dem Sarg formierte sich, vorneweg der Ministrant mit dem Grabkreuz: „Josefine Dirnberger“, darunter „1909 – 1998“. Die Organistin improvisierte über das Schlusslied: „… selig pocht’s in meiner Brust. In die Welt hinaus, ins Leben, folgt mir nun des Himmels Lust.“

      Des Himmels Lust. Der Himmel – für Tante Pepi ein Vertrautes. Das, worauf sie hingelebt hatte. Aber des Himmels „Lust“? Ihres waren der Erde Mühen und Plagen, Lust ist in ihrem Leben wohl nicht vorgekommen. Oder doch? Wenn sie für sich allein im Stall gesungen hat? Wenn sie mit kundigen, starken Händen ein Kälbchen aus dem Leib einer schwer gebärenden Kuh gezogen hat und mit „narrischer Freud“ zuschaute, wie das „Kalberl“ mit unsicheren Beinen hochwippte und zu saugen begann? Des Himmels Lust, die Schwere der Erde. Der Sarg schwankte, von sechs Neffen getragen, aus der Kirche.

      Wer hatte denn ausgerechnet neben dem Friedhofstor einen Traktor geparkt? Die Dorfleute wussten doch, dass heute ein Begräbnis war.

      Der Traktor. Sein Motor begann zu pochen. Schwerfällig erst, ktok – ktok – ktok. Langsam in Fahrt kommend, tok, tok, tok. Letztendlich in einem rhythmischen Gleichmaß verharrend, das den Herzschlag eines Menschen ausmacht. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Das grüne Blech über dem offenen Motorblock zitterte mit jedem Herzschlag mit. Das war – das war doch unserer! Der grüne 15er-Steyr, Baujahr 1953, den man noch mit der Kurbel starten musste. Pepi war lange Zeit die einzige Frau im Dorf gewesen, die Traktor fahren konnte.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk. Über den Fahrersitz war ein schwarzes Kopftuch mit eingewebter silbergrauer Blumenbordüre gebreitet. Das konnte nur meinem Bruder eingefallen sein! Ihm war von Tante Pepi das Traktorfahren beigebracht worden. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk – ein Dank, der zu Lebzeiten nie ausgesprochen worden war.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Ein unterdrücktes Schluchzen würgte die Kehlen der „Bestattleute“, von denen nur wenige über den Tod der alten Frau wirklich zu trauern hatten. Die Jüngeren konnten sich kaum an sie erinnern, aber das klopfende, inständige „Toktohk, tok-tohk, tok-tohk“ ging allen unter die Haut. Die Männer wischten sich die Augen.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Die Frauen weinten und schnäuzten sich.

      In meinen Ohren pochte ein Klavier zum Klopfen des Traktors.

      Das C-Dur-Moderato mit dem Herzschlagmotiv.

      Das traurige Andantino.

      Der heitere f-Moll-Tanz mit dem Hauch von Melancholie. Ich sah sie vor mir, die Tante Pepi, wie sie dem Leichenzug voraustanzt, auf dem Kopf den Weinkrug, im wiegenden Schritt zu Schuberts Allegro moderato: Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Als der Pfarrer anhob „Wir übergeben den Leib der Erde …“, verstummte das Tok-tohk. Tante Pepi war gestorben.

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