Sonnseitig. Schattseitig.. Anna Aldrian
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Und jetzt, zehn Jahre später, sitze ich im Konzerthaus und höre den János Kahn spielen, als wüsste er von all dem. Ich möchte ihn umarmen dafür. Ich sehe nur seine Umrisse, meine Augen schwimmen. Er ist bei Schuberts letztem „Moment Musical“, dem Allegretto, angekommen. Dunkel und weich schlägt die Linke die todtraurigen Akkorde an, die Rechte huscht sacht über die Tasten, als würde sie einem heulenden Frauenzimmer tröstend übers Haar gleiten.
Köszönöm, János Kahn. Danke, Franzl Schubert.
Landaufenthalt
I
Heuballen
Dr. Roland Stückler, aufrechten Gangs, wenn auch der Stütze eines Wanderstocks bedürftig, trat aus dem Dunkel des Waldes. Im jähen Sonnenlicht breitete sich vor ihm eine stark ansteigende Wiese aus, darüber hin verloren sich sommergrüne Weinzeilen ins Blau hinein. Frohgemut über Stock und Stein wandernd (wie er für sich selbst sein mühsames Hochstapfen zu bezeichnen pflegte), hielt er auf die beiden Traktoren zu, die sich am oberen Rand des Wiesenstücks bewegten. Sein aufgekratzter Sportsgeist reute ihn bald; er hätte den Umweg über die schmale Straße nehmen können, die sich weit weniger schweißtreibend als die von ihm gewählte Direttissima in sanften Kurven weinbergwärts wand. Stehenbleiben. Luftholen. Unangenehm nässend machte sich der Schweiß an gewissen Stellen seines Altmännerkörpers bemerkbar. Keine Wehleidigkeiten! Wiewohl schon im Ruhestand, war er immer noch fit, immer noch ein hochgeschätzter Chirurg, also frisch drauflos! Erhobenen Kopfes schritt er weiter aus.
Was es heutzutage nicht alles gibt! Der eine Traktor dort oben sog mit einem gierigen, grünen Rachen Gras in sich hinein, das hinten wie fest gepresster Riesenkot ausgeworfen wurde. Der zweite Traktor nahm den gepressten Ballen auf ein Gestänge, schlang einen überbreiten, weißlichen Nylonverband herum und begann den zentnerschweren Rundballen einzuwickeln, bis er mumiengleich wieder vom Gestänge gerollt und auf der Wiese abgelegt wurde. Neugierig geworden, stieg Dr. Stückler, der sich erst vor zwei Tagen im südsteirischen Weinland eingemietet hatte, über die hingemähten halb trockenen Streifen Grases. Er reckte die Nase vor und sog dieses herzhafte Aroma ein, das er zwischen dem einer frisch gemähten Wiese und dem von sonnengetrocknetem Heu genüsslich einordnete. Mit halb geschlossenen Augen erinnerte er sich an die Heumahden von anno dazumal: von Ochsen gezogene Heuwagen, Heugabeln, Bauernmädchen – und die Angst vor dem drohenden Gewitter.
Zum Teufel! Sein Hemd war nassgeschwitzt, bei jedem Windstoß lief es ihm unangenehm kühl über den Rücken. Dieser steile Hang! Er hatte sich übernommen. Sein Herz klopfte unregelmäßig. Wie hilfesuchend hob er seinen Arm und grüßte die beiden Traktorfahrer. Oder Fahrerinnen? Tatsächlich: Frauen auf diesen bedrohlichen Landmaschinen! Jetzt hielten sie an. Grüßten sie nicht freundlich zurück? Er ruderte mit beiden Armen, setzte sein leutseligstes Gesicht auf – sicher hatten sie ihn erkannt! Das Landvolk hatte ihm, dem „Herrn Primar“, immer Respekt gezollt, und er hatte sich das gerne gefallen lassen.
„Er ist’s“, sagte Verena, „dass der sich traut und hier auftaucht!“
Sie war vom ersten Traktor, dem mit der Heupresse, heruntergeklettert. Ein sekundenschneller Blickwechsel mit der Frau auf dem zweiten Traktor.
„Er ist’s – gewesen“, sagte Julia, die von ihrem Traktorsitz aus das Einwickelgerät betätigte. Mit äußerster Konzentration bewegte sie den joystickartigen Steuerungshebel. Die Gestängegabel, die gerade dabei war, einen gepressten Heuballen zum Einwickeln hochzuwuchten, drehte sich talwärts und rollte ihre massige Last wieder zu Boden.
„Passt genau“, sagte Verena.
Das Letzte, was Dr. Stückler wahrnahm, waren drei hochgereckte Finger, Pappeln gegen den Sommerhimmel und ein heugrünes Ungetüm, das rasend schnell auf ihn zurollte.
II
Die Nacht ist so hell
„Sigi, die Nacht ist so hell“, flüsterte Julia drängend und stieß den rhythmisch schnarchenden Mann neben ihr leicht in die Rippen. Der drehte sich schlaftrunken zu ihr hin und zog sie an sich. Aus den Augenwinkeln sah er den Mond im Fenster stehen und dessen Lichtreflexe in Julias Haar.
Julia stemmte ihre Fäuste gegen die Brust ihres Mannes: „Die Nacht ist so hell! Es friert! Die Blumen! Wir müssen sie zudecken. Und die Fuchsien, die gehören unter Dach!“
Sigi wurde von einer kalten Wut erfasst. Nichts mit Liebe machen. Raus aus dem warmen Bett. Decken suchen und über Blumentöpfe breiten, Blumenkübel in den Keller schleppen, die hohen Oleander mühsam durch die zu kleine Tür manövrieren, nichts umwerfen, nichts abbrechen! Julia mit ihrer Blumenkübelmanie! Sie hätte eben Mitte Oktober einräumen sollen! Noch besser wäre, sie hätte die Blumenstöcke längst entsorgt, zum Kompost geworfen, wie die Nachbarn ihre preisgekrönte Balkonblumenpracht. Nein, Julia musste beweisen, dass der Sonnleitnerhof inmitten der Weinberge eine Nische südlichen Klimas war und ihre Kübelblumen bis Mitte November hinübergerettet werden konnten. Ihn störte jedes einzelne Exemplar dieser dickwandigen, schweren Tonkübel. Angeblich mediterrane Töpferkunst! Wozu? Sie hatten keine Sommergäste, denen man damit imponieren könnte. Aber sie, die Julia, sie hätte ein Buch schreiben können über ihre alten, apfelblütigen Pelargonienarten, über ihre „Brennende Liab“, südseitig vor der hölzernen Hauswand lodernd, über die vielen Fuchsienbäumchen mit knorrigen Stämmen unter einem Regen von zweifärbigen Blüten, in allen Rot- und Rosatönen, in Weiß, Lila und Dunkelviolett.
Also jetzt. Mitten in der Nacht! Sigi war mehr verbittert als wütend. Er liebte Julia seit seiner Bubenzeit. Julia liebte lediglich ihre Blumen. So simpel war das. Seine Zuneigung, sein Liebesverlangen, ja auch die schwere Arbeit auf dem Hof nahm sie in Kauf dafür, dass sie ihre überspannte Kübelpflanzenleidenschaft ausleben konnte! Solche Sachen dachte Sigi nur, wenn er in einer novemberkalten Mondnacht aus dem Schlaf gerissen wurde. Tagsüber war ihm seine Frau eine tüchtige Partnerin, die mit Traktoren und Milchkühen ebenso gut umgehen konnte wie mit dem Computer, was ihm erlaubte, seinen Job als Chef der örtlichen Raiffeisenbank zu behalten. Den Weingarten hatten sie verpachtet. Dass Julia anpacken konnte, wusste er. Sie stand schon angezogen neben dem Bett; sie würde ihre Blumen vor dem Erfrieren retten, auch wenn sie es allein schaffen müsste, zähneklappernd und mit schmerzendem Rücken.
Dann los! Ein Pullover übergezogen, darüber die Windjacke. Es würde trotz der Minusgrade eine schweißtreibende Arbeit werden.
Als die Fuchsienstöcke in den Keller gewuchtet waren, warf Julia ihren Fundus alter Flanelltücher schützend über die Pelargonien. Ein schneidend kalter Wind trieb welkes Laub über den Hof. Julia deutete zur Stallmauer, wo sich eine Passionsblume bis unters Gebälk hochrankte. Immer noch voller Blüten mit überdimensionalen Staubgefäßen, den Marterwerkzeugen Christi nachgebildet. „Leiden-Christi-Blume“ sagen die Bauern. Julia war über den Hof gelaufen und löste vorsichtig die Ranken. Sigi folgte ihr widerwillig. Jedes Jahr dieselbe Plackerei mit dem schweren Topf, der mit seiner Kugelform und den scharfen Rillen äußerst unhandlich war! Keuchend hoben die beiden das Gefäß hoch und hievten es kellerwärts. Da! Das Paradestück aus Kreta zerkrachte mit einem dumpfen Platzer am Boden.
Zu Tode erschrocken, mondweiß im Gesicht, stand Julia da und zitterte. Kein Wort des Ärgers, kein Wutausbruch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie an Sigi vorbei. Irr! Wegen dem alten Kübel! Dass dieses Monstrum dahin war, war Sigi ganz recht. Entschlossen nahm er Julias Arm. Steif, den Blick am gegenüberliegenden Waldrand festgebannt, ließ sie sich ins Haus ziehen.
„Der Sechser“, flüsterte sie, „der Sechserbock.“
War