Ganz da. Richard Rohr

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Ganz da - Richard Rohr

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einen Hang zum Universalen haben und Dichter das Besondere lieben, sind es die Mystiker, die uns lehren, beides zu verbinden.

       Den Balken entfernen

      Sollte meine Beschreibung des grundlegenden Prozesses von Staunen und Hingabe zutreffen, dann muss ich wiederholen, dass wir für gewöhnlich beidem gegenüber blockiert sind, ebenso wie wir uns in der Regel gegenüber großer Liebe und großem Leid verschließen. Spiritualität in ihrer Frühphase hat weitgehend damit zu tun, diese Blockaden zu benennen und sich von ihnen zu lösen, indem wir anerkennen, welchen unbewussten Speicher an Erwartungen, Prämissen und Glaubensinhalten wir zutiefst verinnerlicht haben. Wenn wir nicht sehen, was unser eigenes Reservoir beinhaltet, werden wir alles, was neu ist, ins altbekannte Schema einordnen – und niemals wird irgendetwas Neues geschehen. Eine neue Idee, die vom alten Selbst benutzt wird, ist deshalb niemals eine wirklich neue Idee, während sogar eine alte Idee, die von einem neuen Selbst aufgegriffen wird, schon bald frisch und erfrischend werden wird. Kontemplation füllt unser Reservoir mit klarem, reinem Wasser, das uns erlaubt, Erfahrungen frei von eingefahrenen Mustern zu begegnen.

      Bei unseren Begegnungen mit der Realität – seien sie positiv oder negativ – machen wir folgenden Fehler: Wir begreifen nicht, dass es nicht die Personen oder Ereignisse unmittelbar vor uns sind, die uns ärgern oder Angst machen beziehungsweise animieren oder begeistern. Das ist bestenfalls zum Teil wahr. Wenn du zulässt, dass dich der wunderschöne Ballon am Himmel beglückt, dann ist das so, weil du bereits für das Glück empfänglich bist. Der heiße Ballon in der Luft war nur der Auslöser – und fast alles andere hätte dieselbe Reaktion bewirken können. Wie wir sehen, bestimmt weitgehend das, was wir sehen und ob es uns erfreuen kann oder ob wir eher mit unseren Emotionen knausern und uns naserümpfend abwenden. Ohne eine objektive äußere Realität an und für sich leugnen zu wollen, ist das, was wir in der Außenwelt sehen und wofür wir empfänglich sind, ein Spiegelreflex unserer inneren Welt und unseres Bewusstseinszustandes zu diesem Zeitpunkt. Meistens sehen wir gar nichts, sondern operieren per Autopilot.

      Jesus meint natürlich genau dieses Phänomen in seiner berühmten Aussage, dass wir den Splitter im Auge eines anderen aufspüren ohne wahrzunehmen, dass tatsächlich ein Balken unseren eigenen Blick blockiert (Matthäus 7,1–3). Er lehrte das mit großem Nachdruck: „Du Heuchler, entferne erst einmal den Balken aus deinem Auge, denn erst dann kannst du klar genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Mitmenschen zu entfernen!“ (Lukas 6,42). Unsere buddhistischen Freunde haben den Prozess der Balkenentfernung „Linsenputzen“ genannt. Und ich vermute, genau das war es, worauf sich Jesus bezogen hat, wenn er uns zuruft: „Ändert euch!“ (Matthäus 4,17; Markus 1,15).

      Mir scheint, wir Menschen sind doppelseitige Spiegel, die sowohl die Innen- als auch die Außenwelt reflektieren. Wir projizieren uns selbst auf Dinge im Außen, die uns ihrerseits unsere eigene sich entfaltende Identität zurückspiegeln. Spiegelung ist die Weise, wie Kontemplative sehen, Subjekt zu Subjekt anstatt Subjekt zu Objekt. Diese Technik ist ein wesentlicher Teil moderner Psychologie und Lebensberatung, und das Muster offenbart sich oft eher in Literatur, Kulturstudien und Anthropologie als in den meisten religiösen Praktiken.

      Wir selbst erschaffen einen substantiellen Teil der Bilder und der Bedeutung dessen, was wir sehen – unter Verwendung unserer eigenen Erwartungen, Bedürfnisse, Verletzungen, Zwänge, Vorlieben, Begehrlichkeiten und Prioritätenlisten. Die Psychologie nennt solche verblendenden und fixierenden Muster manchmal „Projektionen“ oder „Reaktionsformate“; in ihrer extremsten Form werden sie sogar als „Selbsttäuschungen“, „Wahn“ oder „Obsession“ bezeichnet. Ohne eine gewisse Wahrnehmung dieser persönlichen Art des Projizierens werden die meisten unserer Beziehungen nicht von Dauer sein, sondern zu einer Anreihung von illusorischen Verblendungen werden. Oder sie werden in völlig unnötigen Feindschaften enden. Ohne reifes Sehen werden wir den Anderen niemals begegnen oder sie wirklich sehen – nämlich als Andere! –, sondern aus unseren jeweiligen inneren Zuständen heraus agieren, wieder und wieder, wie der Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt. Genau dies ist das Endstadium des Narzissmus und die Instabilität jeder Kultur oder Person, die sich nicht selbst reflektiert. Wir müssen uns bewusst sein – geradezu Stunde um Stunde – was unser eigener Speicher enthält, oder wir werden nie das Bedürfnis verspüren, ihn mit einer neuen Art von positivem Fluss zu füllen – geschweige denn jene brackigen oder gar giftigen Quellen zu erkennen, aus denen wir trinken.

      Jesus spricht denselben Gedanken an, wenn er sagt: „Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über“ (Lukas 6,45) oder „das Auge ist das Licht des Leibes“ (Lukas 11,33–36). Wie wir sehen ist, was wir sehen – das ist die ziemlich eindeutige Botschaft Jesu und Buddhas, aber die meisten von uns hatten nie jene reife Wahrnehmung, die psychischen und sogar atomphysikalischen Einsichten, um jene Aussage tatsächlich zu verstehen. Jetzt tun wir es.

       Nicht anhaften: Des-Identifikation

      Die Wüstenväter und -mütter, die in den ersten Jahrhunderten nach Jesus plötzlich auftauchten, hatten trotz ihrer scheinbaren Primitivität und ihrer radikalen Askese häufig einen erstaunlich klaren Blick für die Verbindung zwischen der sehenden Person und dem Gesehenen – und waren diesbezüglich mit ihrer schlichten Direktheit, ihren Geschichten und Einsichten fast so etwas wie Zen-Buddhisten. Der syrische Diakon Evagrius Ponticus (345–399), der manchmal als Ahnherr dessen bezeichnet wird, was schließlich zum spirituellen typologischen Modell des Enneagramms werden sollte, sagt in der Philokalia: „Wenn die Leidenschaften im nicht-rationalen Teil unserer Natur erregt werden, erlauben sie dem Intellekt nicht, angemessen zu funktionieren“.2 Er und viele andere haben diese Einsicht zur Grundlage ihrer Sicht der Gebetskunst gemacht.

      Die Suche nach „Des-Identifikation“ bezog sich für die monastisch lebenden Menschen der frühen Zeit auf jenen Frieden und jene Gelassenheit, die sie durch ihre Tiefenpraxis des sogenannten „Ruhegebets“ entdeckten. Dieses basiert auf Jesu Hinweis, man solle zum Beten in das innere „Kämmerlein“ gehen anstatt „zu plappern wie die Heiden“ (vgl. Matthäus 6,6–8). In dieser frühen Periode verstand man unter „Gebet“ keine irgendwie geartete Verhandlung zwischen Mensch und Gott zum Zweck der Problemlösung. Es ging auch nicht darum, Gott irgendetwas mitzuteilen, sondern darum, „eine andere Denkkappe aufzusetzen“, wie es in meiner Jugend unsere Nonnen auszudrücken pflegten. Anscheinend handelte es sich dabei überhaupt nicht um „Denken“, wie wir das heutzutage verstehen; denn solches Denken ist allzu oft nur eine Reaktion auf den Augenblick oder ein sich ständig wiederholender Kommentar dazu.

      Die Wüstenväter und -mütter verstanden Gebet nicht als eine Art Deal, der Gott irgendwie gefallen sollte (jenes funktionalistische problemlösende Verständnis von Gebet, das sich später durchsetzen sollte), sondern als eine Transformation des Bewusstseins der Betenden, das Erwachen eines inneren Dialogs, der von Gottes Seite aus ohnehin niemals aufgehört hatte. Deshalb lädt der Apostel Paulus oft dazu ein, „allezeit“ zu beten (vgl. 1. Thessalonicher 5,17). Einfacher ausgedrückt: Beim Gebet geht es nicht darum, Gottes Auffassung von uns oder irgendeiner anderen Sache zu ändern, sondern Gott zu erlauben, unsere Sicht der direkt vor uns liegenden Realität zu verändern – was wir meist vermeiden oder verwerfen. „Lass dein Opfer vor dem Altar liegen, geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Mitmenschen, und dann komm und bring deine Opfergabe dar!“ (Matthäus 5,24). Brillant! Zu viele von uns unternehmen endlose Versuche, gottgefällig zu beten, während wir immer noch einen Behälter mit abgestandenem Wasser in uns herumschleppen. Doch in diesem alten Sumpf kann nichts Neues oder Gutes passieren.

      Die „Des-Identifikation“ von den eigenen Leidenschaften, das „Nicht-Anhaften“, hatte für die Wüstenmütter und -väter den Geschmack von Freiheit und Erlösung – lange Zeit bevor wir

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