Ganz da. Richard Rohr

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Ganz da - Richard Rohr

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Begegnung der Liebe, die den Geist verwandelt und das Herz befreit. Solch Egozentrik zeigt sich in der geringen – falls überhaupt vorhandenen – Sorge vieler Christen um Gerechtigkeit, die Erde oder die Armen. Früchte der Liebe sind bei ihnen oft Fehlanzeige und interessieren viele von ihnen auch nicht sonderlich. So kommt jener „Wahre Gott“, den wir vollmundig proklamieren, in der Schöpfung und in den meisten echten menschlichen Problemen nicht wirklich vor. Meines Erachtens ist diese begrenzte Sicht von Erlösung eine der Hauptursachen von Atheismus, Agnostizismus, der Verachtung organisierter Religion sowie vieler psychischer Erkrankungen in der Gegenwart. Wir haben Gott in Kirchen, Zeremonien und eine kleine furchtgesteuerte Gruppe eingesperrt.

      Ich glaube inzwischen, dass das Alternativ-Universum, nach dem wir uns zu Recht sehnen, nicht irgendwo anders oder in der Zukunft liegt, sondern unmittelbar in unseren Herzen und Köpfen! Wenn wir eine völlig andere Geisteshaltung annehmen, dann kümmert sich der Himmel um sich selbst, fängt tatsächlich jetzt an und ist nichts, woran wir „für später“ glauben müssen. Die frühen Mönche und ihre späteren Schwestern und Brüder haben entdeckt, dass wir in die eigenen Herzens- und Hirngespinste verstrickt bleiben, wenn wir uns allzu exklusiv in wortreiche Gebete, Rezitationen und theatralische Liturgien zurückziehen. Wer alles kontrolliert, die Gebetsmühle in Bewegung hält und den Gottesdienst inszeniert, hat sich dadurch noch nicht selbst verändert, und sieht, hört und bietet deshalb auch nichts Neues für die Welt.

      Es mag Katholiken und Orthodoxe schockieren, wenn sie entdecken, dass viele der frühen Einsiedler und Mönche die eucharistischen Gebete oder die Psalmen nur zu ganz besonderen Anlässen gemeinsam rezitierten, keinesfalls jedoch täglich. Der tägliche Kampf hingegen, welcher sie wesentlich mehr forderte – wie er auch uns fordert –, war das Loslassen von einer gedanklichen Fixierung auf irgendwelche Ablenkungen und die fortwährende Suche nach Seelenfrieden von den inneren Dramen. Häufiges Thema in alten Texten wie der Philokalia war „die innere Liturgie des Herzens“ oder die „noetische Liturgie des Geistes“. Das war etwas ganz anderes als die spätere Dauerbeschäftigung mit präzisen liturgischen Vorschriften, die mit der Zeit zu Gesetzen und Regeln wurden und die Kleriker von heute noch immer beschäftigen. Solche Anstrengungen relativieren sich umso mehr, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass jede Denomination eine Obsession für andere „wesentliche“ Dinge hat, die sie für göttliche Mandate hält. Schweigegebet und kontemplatives Gebet hingegen, Konzentration auf das „Ganz da“, bieten uns keine Rollen, Rituale, Texte, Kostüme, Genderthemen oder korrekte Formulierungen, über die man streiten könnte. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb diese Praxis so vieldeutig und mysteriös erscheint – und so selten Raum hat.

       Leidenschaften und Praxis

      Wenn immer wir einen Exzess an Emotionen wie Wut, Melancholie, Begierde oder Furcht verspüren und meinen, dies sei primär von etwas „da draußen“ verursacht worden, begehen wir einen sehr verbreiteten Fehler. Manchmal gehen wir noch weiter und beschuldigen das Opfer oder spielen das Opfer, was heutzutage gängige Strategien bei vielen Missbrauchs-, Vergewaltigungs- oder sogar Mordfällen sind: „Sie hat mich dazu gebracht, das zu tun!“ oder: „Die Misshandlungen meines Vaters haben aus mir das gemacht, was ich bin!“ Sobald Christen eine tiefe Wertschätzung für das „vollkommene Gesetz der Freiheit“ (Jakobus 1,25) und die eigene Fähigkeit zu freier Wahl verlieren, sind die eigentlichen Grundlagen von Moral – und Würde – zerstört. Gott „hat am Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Freiheit gegeben, sich zu entscheiden“ (Jesus Sirach 15,14). Noch drastischer – uns wurde zu Beginn gesagt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen“ (1. Mose/Genesis 2,16). Gott ist offensichtlich höchst risikobereit – und all dies um einer tiefen und echten Liebe willen!

      Aber echte spirituelle und emotionale Reife sind die Voraussetzung für die Erkenntnis, dass unsere Reaktion immer und letztendlich von uns selbst kommt – auch wenn es viel einfacher ist, Verantwortung und Schuld andernorts zu suchen, anstatt zu unserer eigenen inneren Freiheit zu finden. Die Projektion unserer dunklen Anteile auf andere befreit uns von einer riesigen Last. Solange unsere Egos die Kontrolle haben, werden wir so gut wie sicher auf diese verbreitete Überlebenstechnik zurückgreifen. Ich beziehe das gesamte Leben auf mich als zentralen Bezugspunkt, und das ist eine viel zu kleine Welt. Jesus würde sagen, solche Leute haben sich nicht selbst verloren – und deshalb können sie sich auch nicht selbst finden. Man lese dies zweimal!

      Die meisten spirituellen Zeitgenossen meinen, wir müssten uns nur vor den „negativen“ und hässlichen Leidenschaften wie Wut, Überheblichkeit, Neid, Geiz, Angst und Begierde in Acht nehmen. Aber nach Jahren, in denen ich mich selbst und viele andere, die ich geistlich begleitet habe, beobachten konnte, habe ich immer deutlicher gesehen, dass sogenannte positive Emotionen und Reize in ihrer konkreten Wirkung ebenso verblendend und einengend sein können wie negative. Das ist für die meisten von uns überraschend. (Schon gewusst? Das Wort „Leidenschaften“ bezog sich in der frühen Kirche in der Regel auf etwas, was wir „erleiden“ oder „worunter wir leiden“ im Gegensatz zu Handlungen, die wir bewusst und freiwillig wählen. Leidenschaft bezog sich seinerzeit meist nicht auf Sex wie heute so häufig.) Eine Leidenschaft ähnelt vermutlich vielmehr dem, was wir inzwischen unter Sucht oder unbewussten zwanghaften Verhaltensweisen verstehen. Positive beziehungsweise reizvolle Emotionen sind ebenso bindend und blendend wie negative. Auch wenn es zunächst nicht so scheint, weil wir rasch versuchen, sie durch weitere Ablenkungen oder Unterhaltung abzupolstern. Das ist die westliche Konsumhaltung.

      Man denke nur an eine auf Abhängigkeit beruhende Verliebtheit; an aufregende Gelegenheiten, sich zu treffen, einander zu verwöhnen, Sachen in Ordnung zu bringen und „zum Guten“ zu verändern; an einen Tag voller Abenteuer und Spaß; an all die flüchtige Vernarrtheit in irgendetwas; an die glänzende Stimmung nach einem vorübergehenden Erfolg; an Lust auf ein großartiges Essen oder sonst etwas großartiges. Das alles ist gut, und Gott missgönnt uns nicht den Genuss solch guter Dinge. Aber positive Energien können uns auch binden, denn schon bald kann sich das Verlangen nach Wiederholung, Fortsetzung oder Steigerung des momentanen Hochs zu einer Art Zwang entwickeln. Die meisten Abhängigkeiten fangen mit etwas an, was anfangs ganz harmlos war. Inzwischen wissen wir, dass es für diesen Prozess auch eine neurologische Basis gibt, eine Ausschüttung von Hormonen wie Oxitozin und Adrenalin, die wohlige Gefühle produzieren. Wir nennen das einen „Rausch“, und es kann uns in der Tat in illusorische, eigendynamische und letztendlich einsame Gefilde rauschen lassen, wo wir nur noch die schnelle Belohnung wiederholen wollen.

      Am Ende eine kleine Beichte: Ich erinnere mich, wie ich mehr als einmal sehr genervt war von einer Zuhörerin oder einem meiner Schüler, die anderer Meinung waren als ich, und zwar unmittelbar nach einem meiner Vorträge, den ich selbst für wahrhaft exzellent und exzeptionell gehalten hatte! In diesem Augenblick war ich so mit mir selbst und meiner „Inspiration“ identifiziert, dass mir mein aufgeblähtes Ego erlaubte, die betreffende Person (vor mir selbst) als lästig oder ignorant abzuwerten. Ein Teil von mir fragte sich: „Warum gratulieren oder danken die mir nicht einfach?“ Ich schäme mich sehr, das zuzugeben. Aber es brachte mich dazu, den verblendenden Charakter des Hochmuts und Dünkels in mir zu entdecken. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass mir „gehuldigt“ wird!

      Wir alle sind zeitweise aufgeblasen, solange wir uns im Kraftfeld von etwas Wunderbarem befinden. Und wir werden ungeduldig und sogar grantig, wenn uns irgendetwas in die Quere kommt. Man denke nur an Zeitgenossen in überstimulierenden Ferien oder an die gelangweilten, gereizten Blicke von Leuten, die für Essen, Entertainment oder einen Flug anstehen. Das Verlangen nach „totalem Spaß“ ist eine eigene Art von Falle. Solche „Vergnügungskreuzfahrten“ können gefährlicher sein als elementare Ängste, weil wir eben nicht dafür gewappnet sind, sie als problematisch wahrzunehmen. Sie sind selbstverständlich nicht an und für sich böse oder sündhaft, sondern nur insofern gefährlich, wie sie das Bedürfnis nach „mehr vom Guten“ erzeugen, wodurch wir subtil genarrt werden und eine falsche Spur verfolgen. Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Tapferkeit,

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