Luthers Kreuzfahrt. Felix Leibrock
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II
„Da hätte ich eine Stelle für Sie auf der NOFRETETE!“
Alles am Sachbearbeiter Heinz Schmidt wirkte verlebt: Das beige C&A-Sakko mit Lederbesatz an den Ellenbogen, verbeult und nichtssagend, das verwaschene T-Shirt, die eingefallenen Wangen, der ungepflegte Oberlippenbart. Vor und nach dem politischen Umbruch von 1989 war er fünfundzwanzig Jahre lang als Angestellter der Stadt Suhl zuständig für das Texten von Verbotsschildern. Bei einer routinemäßigen Überprüfung seines Dienstcomputers vor ein paar Jahren fanden sich zahlreiche Webseiten deutscher Eheanbahnungsinstitute sowie Korrespondenzen zwischen blutjungen Thailänderinnen und dem deutschen Stadtbediensteten Heinz Schmidt, die nur schwerlich mit der Recherche zu Verbotstexten auf städtischen Schildern in Einklang zu bringen waren. Er musste gehen. Über viele Umschulungen verschlug es Heinz Schmidt für die letzten drei Jahre vor der Rente in die Suhler Arbeitsagentur.
Fahrig huschte er jetzt die Computermaus hin und her. Trister Büroalltag. Ein Dasein am untersten Rand der Hierarchie. Um dem entgegenzuwirken, hatte er es sich angewöhnt, die Jobs, die er zu vermitteln hatte, als seinen Privatbesitz zu etikettieren. ICH hätte da einen Job, ICH kann Ihnen da einen Zuschuss für die Fahrtkosten gewähren, ICH bin die Arbeitsagentur, ICH bin Deutschland, ICH bin dein Herr und Gott. Kein Team-Gedanke, kein kollektives Selbstverständnis, kein WIR. Wie auch? Kolleginnen und Kollegen waren es doch, die ihn bei der Stadt verpfiffen hatten. Der Wink an die Controlling-Abteilung. Nein: ICH, du Arbeitsloser, ICH habe dein Leben in meiner Hand und pass du gut auf, dass ich dich nicht fallen lasse.
„Auf der NOFRETETE?“ Wolle Luther sah über den Rand seiner Gleitsichtbrille auf das apathische Wesen ihm gegenüber. Über mehrere Arbeitsagenturen hatte es ihn in die Kleinstadt am Rande des Thüringer Walds verschlagen. Beim Gang durch das Zentrum hatte er sich die schwarze Fleecejacke zugezogen. DRAUSSEN ZUHAUSE. Werbeslogan des Jackenherstellers. Ihn fröstelte trotzdem. Die Stadt wirkte auf beklemmende Weise gesichtslos. Er fragte nach. Gewissenlose Architekten hatten sie ihres historischen Kerns beraubt.
„Ja, ICH könnte Ihnen da den Posten eines Barassistenten anbieten. Haben Sie eine Beziehung zu Cocktails, Getränken überhaupt? Sie hätten die Aufgabe, die Gäste auf der NOFRETETE in Getränkefragen zu beraten und beim Mixen von Cocktails assistierend zur Hand zu gehen. Also Früchte schneiden, die Spülmaschine bedienen, Gläser auf dem Deck einsammeln. ICH krieg das hin mit der Stelle.“
Die Suhler Arbeitsagentur hatte sich als maritimes Kompetenzzentrum etabliert. Die Vermittlung von Jobs in den Bereichen Fluss- und Hochseekreuzfahrt entsprach einem immer höheren Bedarf seitens der großen Reedereien. Die Küstenregionen waren, was Arbeitskräfte betraf, mehr oder weniger abgefischt. Hier aber, in dieser abseits der Meere und der großen Zentren gelegenen Kleinstadt gab es ein großes Potenzial an Erwerbslosen. Auch ältere, die noch nicht mit dem Berufsleben abgeschlossen hatten und für neue, ein wenig abenteuerliche Aufgaben zu gewinnen waren. Sie hatten keine Familienanbindung, kein größeres soziales Umfeld, waren darum unabhängig und kurzfristig verfügbar. So jedenfalls hatte der Leiter der Arbeitsagentur bei den Gesprächen mit den Reedern im Warnemünder Hotel Neptun die Vorzüge eines zu gründenden maritimen Zentrums in Suhl bei den ersten Verhandlungen gepriesen. Mit Erfolg.
„Barassistent?“, grummelte Wolle und faltete die Hände auf seinem voluminösen Bauch.
„Ja, Mann, Herr Luther, Sie haben doch sicher den Anspruch, Gäste zu verwöhnen. Ihre Begeisterung zeigen Sie mit einem Lächeln!“
Heinz Schmidt gähnte ungeniert und linste mit großen Augen auf den Bildschirm seines Computers, gerade so, als lese er ab, was er gerade sagte.
„Sie handeln verantwortlich. Sie sehen den Kontakt zu internationalen Gästen als Herausforderung und möchten diesen einen unvergesslichen Urlaub bieten. Ihre Leidenschaft zum Beruf, Ihre hohe Motivation und Ihre Herzlichkeit zeichnen Sie aus.“
„Beim Einsammeln leerer Cocktailgläser? Da zeige ich meine Leidenschaft zum Beruf?“
Wolles Gegenrede gefiel dem Leblosen nicht. Er war es gewohnt, die freien Stellen schnell zu vermitteln und dankbare Huldigungen entgegenzunehmen. Seine Klientel war in der Regel froh, irgendeinen Job auf hoher See zu bekommen, egal ob Gastronomie, Entertainment, Massage, Fitness, Kosmetik, Nautik oder Technik. Auf See war der Wechsel des Tätigkeitsfelds möglich. Wichtig war es, erst mal anzufangen.
„Tja“, seufzte Heinz Schmidt gespielt und glotzte wieder auf den Bildschirm, „ICH habe noch Dutzende Bewerber für diese Stelle. Bedenken Sie, Sie begeben sich beruflich auf Weltreise. Es erwartet Sie ein dynamisches und gut ausgebildetes Team unterschiedlichster Nationen. Sie erreichen interkulturelle Kompetenzen, die Sie sonst nur auf Urlaubsreisen gewinnen. Sie sammeln Referenzen für Ihren weiteren beruflichen und persönlichen Lebensweg, Ihre Unterbringung erfolgt in Doppelkabinen …“
Die Hebungen und Senkungen in der Rede des Sachbearbeiters wogten hin und her und erinnerten an Meereswellen. Gleichmäßig, monoton, einschläfernd. Kein Zweifel, er hatte seinen Redefluss dem künftigen Tätigkeitsort seiner Klientel angepasst.
Wolle wog den Kopf hin und her, ebenfalls einer Wellenbewegung gleich. Die Suhler Arbeitsagentur, ein riesiges Schiff, der Boden im Sachbearbeiterzimmer, schwankte er nicht auch? Es klopfte an die Tür. Im Türspalt zeigte sich ein kleiner Mann mit Pickel auf der Nase, lichtem Haar und Ziegenbart.
„Tach, ick bin Rauschi. Is dit hier der Raum, in dem ick meinen neuen Job uff de NOFRETETE kriege?“
Der Sachbearbeiter sah in seinen Kalender.
„Wenn Sie der Herr Rausch sind, Sie sind erst in einer Viertelstunde bei MIR dran.“
„Iss jut. Danke, Meester!“, beschied Rauschi ihm und stieß nicht gerade leise die Tür zu.
„Nun, wie sieht’s aus, Herr Luther, Barassistent oder was? Wenn ich mir Ihren Lebenslauf“, der Leblose verzog das Gesicht, blätterte in einer Akte und betonte jede Silbe einzeln noch einmal, „Le-bens-lauf ansehe, sind die Spielräume eng. Ansprüche erheben, das können Sie vergessen. Kein einziges Zeugnis, nach eigenen Aussagen früher Campingplatzwart, dann lange Zeit krank und schließlich Straßenmusiker und Imitator von Martin Luther. Das – ist – nüscht!“
Wolle seufzte tief und sah durch das geöffnete Fenster über Plattenbauten hinweg in vom Wind stark wogende Baumwipfel. Krähen und Elstern lieferten sich ein lärmendes Gefecht. Dunkle Wolken in der Ferne kündigten ein Gewitter an. Was wusste dieser Sachbearbeiter von seinem Leben wirklich? Kannte er, Wolle Luther, sich eigentlich selbst? Wer war er?
Ein Unfall hatte sein Leben vor einem halben Jahr gedreht. Mit seinen Inlineskates war er gegen eine 500 Jahre alte Deutsche Eiche geknallt. In der Nähe hatte er auf einem Campingplatz als Hausmeister und Empfangschef gearbeitet. Seine Chefin und Lebensgefährtin Rosemarie Aicher hatte den Campingplatz gepachtet. Nach dem Unfall lag er im Koma, erwachte mit einer retrograden Amnesie und posttraumatischen Belastungsstörungen. Er lebte für einige Zeit aus voller Überzeugung in einer anderen Identität und war kein geringerer als Martin Luther selbst. Wochenlang zog er als Straßenmusiker mit seinem Akkordeon durch seine früheren Wirkungsstätten: Augsburg, Coburg, Worms, Eisenach, Erfurt, Wittenberg. Als Martin Luther erschrak