Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina

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      Claudia Brunner, die Großnichte von Adolf Eichmanns Stellvertreter, der für die Deportation von 130 000 Juden verantwortlich war, bringt den Unterschied der Generationen auf den Punkt:

      Je mehr ich zu wissen glaube, umso größer wird das Bedürfnis, noch tiefer einzudringen in dieses dunkle Kapitel, das plötzlich auch meine Familiengeschichte und damit ein Teil meiner eigenen ist … Die Vergangenheit wirft ihre Schatten bis in die Gegenwart, sie wirkt in uns weiter, erst recht, wenn wir versuchen, sie zu verdrängen. … Spätestens beim Thema familiärer Loyalität musste es dann krachen, denn während ich es bisweilen laut herausschreie und meinen Großonkel für seine Taten auch vor anderen laut verurteile – nicht zuletzt, um mich deutlich von seiner Ideologie zu distanzieren –, kommt bei meinem Vater, wie bei vielen der Nachkriegsgeneration, die familiäre Gebundenheit viel stärker ins Spiel, die ihn davor zurückschrecken lässt, deutliche Worte zu finden, sogar mir gegenüber.2

      Uwe von Seltmann, dessen Großvater aktiv an der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstandes im Frühjahr 1943 teilnahm, schreibt:

      Warum verbringe ich seit drei Jahren meine Zeit mit dem Aufsuchen von Zeitzeugen, mit der Lektüre von Dokumenten und Fachbüchern, warum beschäftige ich mich unaufhörlich mit dem unrühmlichsten Kapitel der deutschen Geschichte, warum rühre ich in diesem unappetitlichen braunen Schlamm und wühle dabei mich selbst und andere auf? Weil ich etwas gutmachen will? Weil ich von den dunklen Seiten in mir selbst ablenken will? Ja, warum gerade ich? ‚Du gehörst zur dritten Generation‘, hat mir meine Tante Ute einmal gesagt, ‚du hast die nötige Distanz.‘ Sie habe mit ihren Nachforschungen aufhören müssen, weil irgendwann der Punkt erreicht war, an dem es ihr – als Tochter – zu naheging. Aber ich als Enkel könne diesen Punkt überschreiten und weiter gehen.3

      Die nachgeborenen Generationen suchen nach der Vergangenheit, die sie in sich als Gegenwart spüren. Sie ahnen, dass das vergangene Leben ihrer Eltern mit ihrer gegenwärtigen Befindlichkeit zu tun hat. Sie ahnen, dass sie das Puzzlestück der Vergangenheit dringend zur eigenen Orientierung brauchen, um ihre Herkunft, ihre Gefühlswelt, ihre eigene Identität besser deuten zu können. Um das Schweigen ablegen zu können, müssen sie aus dem Zustand des Unbewussten herauskommen. Sie müssen erfahren, was geschah, und sie müssen erkunden, wer es tat, und sie müssen aufgeklärt werden, warum es getan wurde. Sie verfügen über keine Landkarte dieser gegenwärtigen Vergangenheit. Aber sie wissen, dass die Kenntnis dieser Landkarte für sie enorm wichtig ist. Ohne sie bleibt die Suche nach dem unbekannten Puzzlestück ihrer eigenen Biografie und Persönlichkeitsfindung unvollständig. Sie sehnen sich nach Aufklärung über eine Vergangenheit, die sie nicht erlebt haben, die jedoch einen großen Teil ihrer Gefühle und Identität bestimmt. Das Gefühl, nur halb zu der Gesellschaft zu gehören, die deutlich anders empfindet, belastet sie. So leben sie permanent in zwei Kulturen und wollen um jeden Preis aus diesem Dilemma ausbrechen.4

      Geschwiegen haben nicht nur die Täter, sondern genauso die überlebenden Opfer, und nicht zu vergessen die vielen Mitläufer, die keine Gelegenheit auslassen, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Geschwiegen haben die Kirchen. Geschwiegen hat damals die Welt – jedenfalls viel zu lange. Hat auch Gott geschwiegen?

      Die Geschehnisse der NS-Zeit führten zu Schuld, Mitschuld und Schuldgefühlen, die niemanden unbeteiligt ließen. Da aber in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Schuld nur in einem spezifisch juristischen Sinn aufgearbeitet wurde, blieb sie in vielen anderen Formen erhalten: Moralische, psychologische und kollektive Formen von Schuld lassen sich nicht vor Gericht verurteilen. Um ein funktionierendes Leben führen zu können, schwieg man sich aus – schuldig waren schließlich Leute wie Eichmann, und für die gab es große Prozesse. Nicht vor den eigenen Kindern, in vielen Fällen nicht einmal vor sich selbst, gestand die große Masse der Mitläufer und Profiteure ihre Mitschuld ein: Alle schwiegen.

      Die zahlreichen Publikationen, die sich auf die Suche nach der Familienvergangenheit machen, versuchen, dieses Schweigen zu brechen. Sie lassen sich als Ausdruck einer diffus empfundenen Belastung deuten – ein Erbe der unmittelbar betroffenen Generation.

      So tragen viele, oft auch unbewusst, ein transgenerationelles Erbe mit sich. Dieses Erbe hat die bewussten Erlebnisse der Täter- und Opfergeneration in ein unbewusstes Dilemma der nächsten Generationen verwandelt. Das Erbe wird als Last empfunden, aber es fehlt die Orientierung, damit umzugehen. Es ist bisweilen schwerer zu verkraften als das, was die Eltern oder Großeltern auf der bewussten Ebene erlebten.

      Der erste Teil dieses Buches dokumentiert, auf welche Weise diese unbewusste kollektive Schuld (denn wie sich zeigen wird, leiden auch die Opfer und ihre Nachkommen an subjektiv empfundenen Schuldgefühlen) sich in Einzelschicksalen als psychische Belastung auswirkt.

      Hermann Hesse formulierte den tiefgehenden Satz: „Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist.“ Vergangenheit, die nicht durch Aufarbeitung geklärt wurde, kommt wieder. Schweigen, das sich durch Aufarbeitung nicht aufgelöst hat, hält das Verborgene am Leben. Angenommen, Hesses Behauptung stimmt und wir würden uns eingestehen, dass in der deutschen Vergangenheit Aufarbeitung durch das Schweigen der Täter und Mitläufer unzureichend stattgefunden hat; müssten wir dann nicht genauer analysieren, was wiedergekommen ist und was am Leben bleiben konnte, obwohl es für tot erklärt wurde?

      Wir müssen uns der Frage stellen, was anders gelaufen wäre, wenn die Großväter und Väter schonungslos, betroffen und vorbehaltlos das Schweigen gebrochen und sich wahrhaftiger zu ihrer Schuld bekannt hätten.

      Konnten sich gar bestimmte gesellschaftliche und politische Strömungen in Deutschlands Nachkriegszeit erst dadurch entwickeln, dass schweigende Mitläufer vor den kritischen Fragen ihrer Kinder in den Konsum und die Karriere geflüchtet sind? So lange, bis die junge Generation ihre Fragen einstellte und ihre aufgestaute Frustration auf die Straße hinaustrug und radikale Gruppierungen bildete, die auch vor Attentaten nicht zurückschreckten? Diese Kinder wollten von ihren Eltern erfahren, warum sie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht widersprochen hatten, warum sie nicht nachgefragt oder protestiert hatten, als Juden in ihrer Nachbarschaft abtransportiert wurden. Mit dem Durchbrechen ihres Schweigens hätten sie bei den jungen Menschen Achtung gewonnen. Durch ihr Schweigen oder Verschweigen aber haben sie eine doppelte Hypothek auf sie gelegt.

      Könnte also das wütende und verzweifelte Aufbegehren der 68er-Generation mit dem hartnäckigen Schweigen ihrer dem materiellen Wohlstand nachjagenden Eltern zusammenhängen? Wären wir von dem RAF-Terror verschont geblieben, der Deutschland ein Jahrzehnt lang erschütterte?

      Die Täter und Mitläufer folgten in der Nachkriegszeit dem Pfad ihrer Furcht. Es war die Angst, dass irgendetwas offenbar werden könnte, das ihrem Image und ihrer Karriere schaden könnte. Dadurch haben sie aber ihren Kindern am meisten geschadet. Der Psychologe Tilmann Moser spricht von einer „Scheinheilung“ dieser Generation, die dazu geführt habe, dass den Nachgeborenen „ganze Container voller Probleme“ aufgeladen wurden.5

      Ähnlich lief es nach dem Zusammenbruch der DDR ab. Außer dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der sich in einigen Gesprächen mit mir bewusst auch nach der Wende als überzeugter Kommunist zu erkennen gab, bin ich praktisch niemandem begegnet, der sich als ehemaliger Funktionär bekannt hatte. Immer waren es die Nachbarn oder die Leute im Wohnblock gegenüber gewesen. Tiefergehende, selbstkritische Aufarbeitungsbereitschaft fehlte auch nach der Wende. So, wie es nach dem Ende des 2. Weltkriegs plötzlich nirgendwo mehr Nazis gab, verschwanden nach dem Zusammenbruch der DDR auch alle Kommunisten.

      Der zweite Teil dieses Buchs hält die verstörende Beobachtung fest, dass Verschwiegenes in späteren Generationen wiederkehrt, sowohl innerhalb von Familien als auch der gesamten Gesellschaft. Sogar in der scheinbar harmlosen Arbeitswelt lässt sich so etwas wie eine Arier-Ideologie feststellen. Können etwa auch die von der RAF ausgeführten Mordtaten und das eiserne Schweigen der beteiligten Täter

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