Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
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„Die Schuld des Überlebenden“, so stellte Robert Jay Lifton fest, „kennen alle, die Krieg, Naturkatastrophen etc. überlebt haben. … Das Opfer, nicht der Täter, fühlt sich schuldig.“25 Viele Überlebende des Holocausts empfinden nicht selten Schuldgefühle, weil sie sich selbst vor die Wahl gestellt sahen, entweder ihr Leben hinzugeben oder am Leben zu bleiben. Wie mutig und einfallsreich das Opfer auch immer war, es konnte damit die Katastrophe nicht abwenden. Wenn Opfer nach traumatischen Ereignissen ihr eigenes Versagen reflektieren und beurteilen, entstehen praktisch immer Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Karl Jaspers nennt dieses Phänomen „metaphysische Schuld“.26 Er beschreibt mit diesem Begriff ein Gefühl der Mitverantwortung für alle Ungerechtigkeit in der Welt nach der Logik: Ich bin mitschuldig, weil ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können, um das Unrecht zu verhindern. Können solche Schuldgefühle überhaupt angegangen und überwunden werden?
Wer aber kann den Opfern in ihrem tiefen Empfinden von Schuld eine Entlastung zusprechen? Jaspers nennt Gott als Instanz. Viele der Opfer haben aber Schwierigkeiten, sich an Gott zu wenden, weil sich damit unmittelbar die Bitterkeit darüber, dass Gott nicht eingegriffen hat, einstellt. Und sie stellen sich bisweilen die Frage: War in diesem Fall nicht Gott auch mitschuldig? Sie haben Zweifel an der Existenz Gottes, sie haben ihren Glauben an ihn verloren. Sie fragen sich, ob Gott nicht nur in Wahrheit ein bloßes Deckwort für „Niemand“ darstellt. Sie fragen sich, ob etwa die Aussage „Gott richtet“ nicht in Wahrheit dieselbe ist wie „Niemand richtet“.
Kein Gott? Kein Gericht? Keine Schuld? Wenn dem so wäre, dann handelte es sich bei ihren „Schuldgefühlen“ im Grunde nur um pathologische Symptome, die die „Normalen“ nicht ernst zu nehmen bräuchten. Das Verdrängen Gottes wäre dann nur ein möglicher Hinweis darauf, dass derart viele Opfer mit Schuldgefühlen es so schwer haben, über das Erlebte zu sprechen und sich anderen zu öffnen.
Überlebensschuld ist einer der fundamentalen Konflikte, die den Überlebenden bedrohen. Ein Gesicht der Schuld ist die Scham, die Neigung des Menschen, sich für das, was ihm widerfahren ist, zu schämen, auch wenn er gar keine Schuld daran hatte. Nirgendwo ist dieses Gefühl der Scham stärker als bei den Juden, dem Volk, das von seinen Feinden dazu ausgewählt wurde, ausgerottet zu werden. Es ist eine Scham, die über Jahrhunderte Juden zum Schweigen gebracht hat.
Innere Unruhe und Unbehagen vor stillen Momenten
Zum Schluss sei noch das Symptom der Ruhelosigkeit angeführt: Das Schweigen der überlebenden Opfer ist oft mit einer immensen inneren Unruhe gepaart, als ob man auf der Flucht sei. So lässt sich bei den Betroffenen ein Hang zu übermäßiger Arbeit und Selbstüberforderung beobachten. Innehalten könnte einen mit plötzlich auftauchenden Bildern der eigenen Vergangenheit konfrontieren, die man nicht ertragen könnte.
Der Schriftsteller W.G. Sebald schreibt in „Austerlitz“:
Ashman erwiderte darauf, er selber habe 1941, bei Requirierung des Hauses, die Türe zu dem Billardzimmer wie auch zu den Kinderstuben im obersten Stock durch das Einziehen einer falschen Wand verborgen, und als man die Paravents, vor die man große Kleiderkästen geschoben hatte, im Herbst 1951 oder 1952 entfernte und er zum ersten Mal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen. Beim bloßen Anblick des Eisenbahnzugs mit den Waggons der Great Western Railway und der Arche, aus der paarweise die braven, aus der Flut geretteten Tiere herausschauten, sei es ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit, und wie er mit dem Finger die lange Reihe der Kerben entlanggefahren sei, die er im Alter von acht Jahren am Vorabend seiner Verschickung in die Preparatory School in stummer Wut, erinnerte sich Ashman, in den Rand des Beistelltischchens neben seiner Bettstatt geschnitzt hatte, da sei eben dieselbe Wut wieder in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wusste, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrtürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne. 27
Carolin Emcke kommentiert diese Stelle:
Die Wiederentdeckung des versteckten Zimmers der Kindheit, das plötzlich geöffnet wird, die Rückkehr an den verborgenen Ort des vergangenen Leidens, der Blick auf die Spuren der Ohnmacht, mit der das achtjährige Kind seinen Zorn in den Nachttisch geritzt hatte, entzündet eben dasselbe Gefühl der verzweifelten Wut erneut. Die zurückgelegte Zeit erlischt in diesem Moment, die geschichtliche Erfahrung zerrinnt. Als ob ein Druckausgleich stattfände, saugt der geöffnete Raum der Vergangenheit alle Gegenwart in sich hinein – und die frühere Emotion entlädt sich jetzt, da ihr kein Anlass, kein Grund, mehr gegeben ist.28
Viele der Opfer haben deshalb eine problematische Beziehung zu ihren Kindern, da man im guten Umgang mit Kindern innerlich gewissermaßen oft stillstehen muss, wenn man ihnen voll und ganz gerecht werden möchte. Und genau dieses Innehalten konnten viele wegen ihrer Vergangenheit nicht leisten. Stillstehen hätte den Kindern Anlass geben können, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollten.
Die aus der Ukraine stammende jüdische Musikerin Bella Liebermann schreibt von diesen Kindern, dass ihnen später die Erinnerung an eine stabile Kindheit und Jugend fehlte, die aber die Grundlage für eine gesunde Entwicklung der Psyche bildet.29 Sie beobachtete bei den Kindern später im jugendlichen Alter vermehrt Identitätsprobleme. Diese seien immer dort entstanden, wo die Kinder noch im Kleinkindalter ihre Eltern entbehrten, weil diese ihnen zu wenig persönliche Aufmerksamkeit widmen konnten.30
Schuldbewusstsein wird verdrängt
Das Schweigen der Opfer war aus einem Nicht-reden-Können entstanden, das der Täter aus einem Nicht-reden-Wollen. Der Münchner Psychologe Louis Lewitan bezeichnete dieses Verhalten der Täter und Mitläufer des Dritten Reichs als eine „Verschwörung des Schweigens“. Man redet nicht davon, man fragt nicht. Das Prinzip des Verdrängens, Verleugnens, des Nicht-wissen-Wollens hat funktioniert. Das Schweigen geschah und geschieht im vollen Bewusstsein. Sie verschweigen, damit es nicht nach außen dringt. Ein Täter gesteht selten im Nachhinein aus schlechtem Gewissen seine Tat. Schuldgefühle verspürt er nur, wenn er bei seinem Tun ertappt wird.
Führen wir uns vor Augen: Opfer wurde man im Nationalsozialismus meist zufällig. Es genügte die falsche Religion, der falsche Geburtsort, ein körperlicher Defekt oder eine abweichende politische Meinung. Täter oder Täterin hingegen konnte man nur aktiv werden, die Entscheidung zur Teilnahme am Verbrechen wurde, auch wenn es eine „Pflicht“ zu erfüllen gab, von jedem selbst getroffen – sie ist daher auch von jedem selbst zu verantworten.31
Ein Mensch führt selten eine schlechte Tat mit fatalen Auswirkungen aus, ohne sich nicht vorher eine moralische Begründung dafür zurechtzulegen. Hat er sich eine Rechtfertigung erst einmal glaubhaft eingeredet, kann er sein eigenes Vergehen erfolgreich ausblenden und sich ohne spürbare Gewissensbelastung wieder dem Alltag zuwenden. So lässt es sich ohne größere Probleme mit der verschwiegenen Last der Tat leben. Verdrängung ist der Vorgang, durch den eine innerseelische Belastung (ein Gedanke, eine Erinnerung etc.) ins Unbewusste abgeschoben und von dort nicht mehr direkt ins Bewusstsein gelassen wird: Der ins Unbewusste verbannte Bewusstseinsinhalt teilt sich nach seiner Abspaltung nur indirekt durch verschiedenste körperliche Symptome, Versprecher oder Angst und Wunschträume mit.
In Anspielung auf einen NS-Verbrecher kommentiert die Psychoanalytikerin Thea Bauriedel: „Gewiss hat er Schuldgefühle gehabt, so wie die allermeisten Nazitäter. Und weil er Schuldgefühle hatte, habe er weitergemacht. Jede Wiederholung, jede Steigerung von Taten habe auch dazu gedient, das zuvor Geschehene zu legitimieren. Warum trete jemand nach, wenn der andere bereits am Boden liegt, obwohl das der menschlichen Natur widerspreche?