Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina

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war und das selber nicht ausgehalten hat, dass also doch irgendwo das Menschliche durchbrach und dass er dann als eine Reaktion darauf, diese Brutalitäten nicht ertragen zu können, dass Frauen und Kinder in die Grube geschossen wurden, die Erschießungen eingestellt hat. Er hat ja wohl auch zuerst vom Kommandeur vorgetragen bekommen, dass die Soldaten das nicht aushalten. Das ist nicht Kampf, das ist Mord, Mord an Frauen und Kindern. Und das hält ein normaler Mensch nicht aus, vor allem nicht in dieser Häufung. Es gibt eine These oder Vermutung, dass diese Vergasungen, diese Techniken im Grunde genommen dazu dienten, die Tötung von den Mördern zu entfernen (abzuspalten), für die Mörder erträglicher zu machen. Dazu eine Analogie zum Krieg heute: Je weiter tragend diese fürchterlichen Waffen sind, umso weniger erfährt der, der die Waffe auslöst, was er damit an Elend, Tod und Leiden verursacht. Wer in 10 000 Meter Höhe seine Bomben fallen lässt, sieht nicht, was da unten passiert.40

      So besehen diente die ausgeklügelte Tötungsmaschinerie nicht nur ihrem Hauptzweck, der Vernichtung von unschuldigen Menschen, sondern verhinderte auch das Entstehen von Schuldgefühlen bei den Einzelpersonen, die allesamt ihren Teil beitrugen.

      Die NS-Verbrecher und Mitläufer wollten von ihren Kindern lieber als Opfer und nicht als Täter gesehen werden. Darum verschwiegen sie nicht nur ihre Täterrolle, sondern sprachen auch gerne über ihre Leiden.

      Wie Jürgen Müller-Hohagen beschreibt, haben sie nach 1945 geradezu eine Kehrtwende gemacht von Mitmachern, Kollaborateuren, Tätern hin zu „Opfern“:

      Sie haben sich das zunächst selbst eingeredet, danach ihren Angehörigen, ihren Kindern, ihrer Umgebung. Das war Verschweigen durch Legendenbildung. Die Umdeutung von Tätern und Tatbeteiligten zu vermeintlichen Opfern ist als einer der zentralen Vorgänge anzusehen, durch den reale Schuld geleugnet wurde und die nachfolgenden Generationen bis tief in die geistig-seelische Substanz hinein verwirrt wurden. Am Ende dieses Lügenprozesses steht das Bild auf Seiten der Nachgeborenen: ‚Opa war kein Nazi.‘ Dadurch wurden sie erst recht zu Tätern, und das ausgerechnet noch ihren Kindern gegenüber, indem sie deren Wahrnehmung und Wahrheitsbezug nachhaltig störten oder gar zerstörten. Letztlich kamen sie dadurch noch mehr in die Eindeutigkeit der Zuordnung zur Täterkategorie, der sie eigentlich entfliehen wollten – und der sie zuvor vielleicht paradoxerweise nicht einmal so ausschließlich angehörten.41

      Immer wieder hört man von Seiten der Täter und Mitläufer zahlreiche Beschönigungen und Verharmlosungen, aber nur selten echte Betroffenheit, echte Eingeständnisse, klare Stellungnahmen gegenüber ihrer wie auch immer gearteten Beteiligung.

      „Gegen ein schlechtes Gewissen hilft bekanntlich am besten ein schlechtes Gedächtnis, und das Gewissen ist sowieso nur eine leise Stimme im Innern – dort, wo die Akustik schlecht ist.“42

      Dieses Wegschieben der ersten Schuld beschreibt der bekannte Publizist Ralph Giordano als zweite Schuld. Diese zweite Schuld sei eine Schuld gegenüber den Opfern der Nazi-Herrschaft, aber auch eine Schuld gegenüber den eigenen Kindern und Kindeskindern. Giordano bezieht sich in seinen Überlegungen auch auf das erschütternde Buch von Peter Sichrovski, in dem Nachkommen von Nazis ihre Kindheit schildern.43

      Martin Bormann junior:

      Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass mein Vater alles oder fast alles wusste. Das kann ich mir nur so erklären, … dass Hitler für ihn so etwas wie eine Vaterfigur abgegeben hat. Ich aber glaube, dass der Mensch niemals so unfrei ist, dass er etwas Schuldhaftes tun müsste, sondern Verantwortung setzt den Begriff der Freiheit voraus. Mein Vater hat nie auch nur ein Wort von den Vernichtungen gesprochen. Die Mutter hat mit uns auch nie ein Wort darüber gesprochen. Das waren Bereiche, die wahrscheinlich tabuisiert worden sind, vielleicht aus dem Bemühen heraus, die Kinder nicht mit Dingen zu belasten, die in der Tat belastend wären.44

      Die Tochter eines SS-Mannes erzählt von ihrem Vater:

      Er hat in der Ukraine Erschießungskommandos geleitet. Auch nach seiner Entlassung zeigte er nur Selbstmitleid. Nie hat er etwas über seine Opfer gesagt. Er fand es nur völlig ungerecht, dass er verantwortlich gemacht wurde für die Menschen, die er getötet hatte. Er hat nicht einmal das Schicksal seiner Opfer anerkannt. Es gab überhaupt keine Anzeichen dafür, dass er sich irgendwo wegen seiner Taten schuldig fühlte oder darunter litt. Es gab überhaupt kein Anzeichen dafür. Das wäre das Einzige, was ich heute fragen würde, wenn er noch am Leben wäre.45

      Eine der unverschämtesten Selbstrechtfertigungen, die uns überliefert sind, sei an dieser Stelle angefügt. Dieser Satz ist von einer der letzten Mitarbeiterbesprechungen von Josef Goebbels überliefert: „Nun“, sagte er leise, „das deutsche Volk hat sich dieses Schicksal selbst gewählt. Niemand hat es gezwungen. Es hat uns ja selbst beauftragt. Warum haben Sie mit mir gearbeitet? Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten.“ Dann hinkte Goebbels im korrekten dunklen Anzug mit blütenweißem Hemdkragen nach draußen, drehte sich in der Tür noch einmal um und sagte: „Aber wenn wir abtreten, dann soll der Erdkreis erzittern.“46

      Ein oft verwendetes Argument für die eigene Partizipation am Genozid war die Sorge um die eigene Familie. Doch das Auslöschen fremder Familien, die als Rechtfertigung für das Morden herhalten müssen, legt eine enorme Erblast auf die Kinder der Täter.

      Renates Vater war während des Krieges Einsatzgruppenleiter eines Erschießungskommandos:

      Mein Vater sagte, er hätte es für uns getan. Wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre, hätten sie ihn erschossen, und dann wäre seine Familie hilflos zurückgeblieben. Das fand ich eigentlich das Schlimmste, wenn er sagte: Ich habe es für euch getan. Letztlich sagte er damit: Er habe all diese Leute getötet aus Liebe zu seiner Familie und zu seinen Kindern. Ich sagte ihm: ‚Wenn du nur gesagt hättest, du würdest es nicht tun.‘ Darauf sagte er: ‚Du hättest so gern einen Vater, der das getan hätte und dafür erschossen worden wäre.‘ Ja, vielleicht hätte ich lieber einen solchen Vater.47

      Hier sind nur einige Beispiele für die Rechtfertigungen, deren sich die Täter bedienten:

       „Ich habe es zum Wohl für die Partei gemacht.“

       „Ich habe mein Versprechen gegeben.“

       „Keiner kann den Druck ermessen, unter dem wir damals standen.“

       „Wir müssen das Versagen unseres Landes von damals im europäischen Kontext sehen.“

       „Es haben damals ja alle mitgemacht.“

       „Wir hätten die Existenz unserer Familie gefährdet.“

      Es neigt immer die erste Generation nach dem Ende eines Schreckenssystems dazu, die Geister der Vergangenheit in ihren Gräbern zu lassen. Nur nicht an den vergangenen Verbrechen und Wunden rühren.

      Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Täter hat es geschafft, sich schonungslos und ohne Rechtfertigung der eigenen Schuld zu stellen. Nur mit einer solchen Haltung hätten sie Respekt bei ihren Kindern ernten und ihnen damit eine Brücke zur eigenen Lebensfindung bauen können.

      Warum scheint es so unüberwindbar schwierig, sich der eigenen Schuld zu stellen? Im Fall des Holocausts liegt die besondere Schwierigkeit nicht im Verzeihen allein, sondern darin, dass die Schuld so „unverzeihlich“ schlimm ist. Eine „unverzeihliche“ Schuld

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