Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
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Ich glaube, es wäre für mich leichter gewesen, wenn mein Vater mir gesagt hätte, was er gemacht hat, wie er darunter gelitten hat und was er daraus gelernt hat. Und das ist eigentlich der wichtigste Punkt: Mein Gefühl, dass er überhaupt nichts gelernt hat, nichts aus seinem persönlichen Schicksal, nichts aus der politischen Entwicklung, nichts aus der Geschichte – überhaupt nichts hat er gelernt. Die Geschichte meines Vaters belastet mich deswegen bis heute noch viel mehr, als ich es bisher geahnt hatte. Ich führe oft innere Dialoge mit meinem Vater, Dialoge, die es ja nie gegeben hat, als er noch gelebt hat. Ich denke, dass er seine Rolle als Familienvater nur aufrechterhalten konnte, indem er seinen Kindern gegenüber sagte, er sei unschuldig und das Urteil sei ein Fehlurteil. Wenn ich nun also mit ihm rede, denke ich manchmal, er würde vielleicht sagen, dass die Schuld, die er empfindet, zu groß ist, um sie uns gegenüber zu gestehen, im Gegensatz zu früher, als ich gedacht habe, dass er gar keine Schuld empfindet. Also in den ‚Gesprächen‘ mit ihm habe ich die Vorstellung: Wenn er die Schuld übernimmt, kann sie auch von mir weggenommen werden. Und ich bin ganz sicher, dass ich ihn damals unterstützt hätte, wenn er mir gegenüber seine Schuld eingestanden und auch sein Mitleid für die Opfer gezeigt hätte. In meinen Phantasiegesprächen bekennt er sich zu der Schuld, vielleicht auch, weil ich hoffe, er würde dann sehen, was er durch sein Verhalten angerichtet hat, dass er mich, meine Geschwister und meine Mutter unglaublich belastet hat.48
Indem der Vater seine Schuld nicht eingestand, wurde sie zur Schuld seiner Tochter.
Fehlgeleitetes Gehorsamsverständnis
Nicht wenige der Täter haben in ihrer Kindheit selbst erlebt, dass Erwachsene willkürlich oder unberechenbar mit ihnen umgegangen sind: Das Ausgeliefertsein ist ihnen insofern nicht fremd. Als Kind mussten sie Gehorsam leisten und bekamen niemals Gelegenheit, diesen zu hinterfragen. Somit konnten sie kein gesundes Verhältnis zum Thema Gehorsam entwickeln.
Kinder lernen im frühen Lebensalter Gehorsam, damit sie zunächst einmal ungefährdet heranwachsen und später zunehmend Selbstbestimmung erlernen können. Ab einem bestimmten Alter aber beginnt eine Fehlentwicklung, wenn man einem Kind nicht die Freiheit zum straflosen Hinterfragen gibt. Wer früh lernt, den Gehorsam über die eigene Person und die eigenen Gefühle zu stellen, kann keine eigene autonome Persönlichkeit entwickeln und schiebt später die Verantwortung für das Böse der übergeordneten Person zu. Menschen, die so erzogen wurden, können perfekt mit dieser delegierten Verantwortung leben. Die Bandbreite der somit erreichten „Schizophrenie“ reicht von der willenlosen Abspaltung der Gefühle bis hin zur pervertierten Gewaltbereitschaft. Vor dem Hintergrund eines gebrochenen Verhältnisses zum Thema „Gehorsam“ und der Abspaltung von Gefühlen vereinigen diese Menschen in sich Gesinnungen, die mit dem gesunden Menschenverstand niemals vereinbar sind.
Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, dann waren die Verantwortungsträger im Dritten Reich oft durch ihre so geartete, gespaltene Gefühlswelt für ihr heute so schwer nachvollziehbares Verhalten vorbelastet. Aus nicht hinterfragtem Gehorsam als oberstem Wert praktizierten sie im öffentlichen Leben eine andere Moral als zu Hause, ohne sich dieser Schizophrenie bewusst zu sein. Öffentlich überließ man die Bewertung der Moral der Obrigkeit, der man zu Gehorsam verpflichtet war. Nur im Privaten wurden die Werte ausgelebt, die dem normalen Moralkodex entsprachen. Die Widersprüchlichkeit verdrängte man. Der Gehorsam zum Führer als oberste nicht überbietbare und nicht hinterfragbare Gewissensinstanz bewirkte diese Spaltung, dass Menschen, die im privaten Bereich durchaus moralisch lebten, in ihrer politischen Karriere buchstäblich über Leichen gehen konnten.49
Ein Einfallstor für fehlgeleiteten Gehorsam ist die Minderwertigkeit. Ein Mensch, der sich seines Wertes und seiner Identität nicht sicher ist, ist gefährdet. Minderwertigkeit ist auch immer ein Türöffner für Anmaßung und Selbstüberschätzung. Zur Erhaltung dessen, worauf sie endlich stolz sein zu können vermeinen, sind diese Menschen geneigt, Dinge zu tun, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden: Den Gehorsam hinterfragen sie nicht, wenn er ihnen Vorteile bringt. Aus der Minderwertigkeit heraus werden dann Rangordnungen erstellt, die definieren, was der Einzelne wert ist. Der Schritt von der Klassifizierung von Menschen bis zu ihrer Entwürdigung, zur Definition von Herren- und Sklavenrassen, ist klein. Die eigene Minderwertigkeit kann also in eine solche Anmaßung führen, dass in Kategorien von Herren- und Sklavenrassen, von lebenswertem und lebensunwertem Leben, gedacht wird. Es wird bestimmt, welches Leben gefördert und welches eliminiert werden muss, weil es krank, schwach oder fremd sei.
Die Autobiografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß verdeutlicht, dass es pflichtbewusste, autoritätsgläubige und zum gehorsamen Dienen erzogene Menschen waren, die sich einreden ließen, die Beseitigung von Millionen von Menschen würde einen Dienst an Volk und Vaterland bilden. Höß, ein durchschnittlicher Mensch, nicht bösartig, sondern ordnungsliebend, pflichtbewusst und ausgesprochen moralisch, gibt uns ein Beispiel dafür, dass auch private Integrität nicht vor Inhumanität bewahrt, sondern pervertiert und in den Dienst eines kollektiven Wahnsinns gestellt werden kann, ohne dass der Einzelne der Unmoralität seines Handelns gewahr wird. Gerade hierin besteht der Nährboden für den scheinbar unerklärlichen Fanatismus, mit welchem sich der Mensch, ohne es zu bemerken und ohne dabei dem privaten Moralkodex untreu zu werden, in den Dienst eines ‚höheren‘ Auftraggebers stellen kann, der ihn missbraucht.50
Höß zelebrierte mit seiner Familie jeden Morgen die Morgenandacht und hatte einige Tage lang Depressionen, nachdem seine Katze gestorben war (nachzulesen in seinen Tagebüchern), während er in seinem Berufsalltag die grauenhaftesten Hinrichtungen ohne jegliche Gewissensbisse mitverantwortete. Viele Naziverbrecher haben in Nürnberg und vor Gericht ausgesagt, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Der einzelne Täter floh damit quasi in die Kinderrolle. Er stellte sich in den Schutz des „Übervaters“.
Auch Eichmann brachte dieses Selbstverständnis zum Ausdruck: „Ich war nichts anderes als ein getreuer, ordentlicher, korrekter, fleißiger und nur von idealen Regungen für mein Vaterland, dem anzugehören ich die Ehre hatte, beseelter Angehöriger der SS und des Reichssicherheitshauptamtes … “51
Mit dem Beginn des Dritten Reichs wurde die deutsche Gehorsamstugend für pervertierte Ziele missbraucht. Die meisten Deutschen waren sich dieses Mechanismus nicht bewusst. So gerieten die sittlichen Grundbegriffe ins Wanken. An ihre Stelle traten nun aus pervertiertem Gehorsam entweder selbstquälerische Skrupel, die nie zur Tat führten (Mitläufer), oder aber verantwortungslose Skrupellosigkeit. Gerade die gehorsamen und pflichtbewussten Bürger wurden so zu Tätern. Sie haben Menschen ausgepeitscht, ausgehungert, ihnen Schmerzen zugefügt, sie auf Todesmärsche geschickt, sie mit Gewehrkolben niedergeschlagen, eingesperrt, in Ghettos gepfercht, bombardiert. Sie haben Mütter mit ihren Kindern auf den Armen erschossen.
Hitler selbst stand Pate für das übergeordnete personale Gewissen. Ihm gegenüber war blinder Gehorsam gefragt. Gegenüber dieser Gehorsamspflicht wurde das subjektive Gewissen als zweitrangig eingestuft. Der „Führer“ konnte ja nicht irren.
Aus diesem uneingeschränkten Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers heraus konnte Rudolph Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen vermerken: Ich habe auch beobachtet, dass Frauen, die ahnten oder wussten, was ihnen bevorstand, mit der Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen. Eine Frau trat einmal im Vorbeigehen ganz dicht an mich heran und flüsterte mir zu, indem sie auf ihre vier Kinder zeigte, die sich brav angefasst hatten, um die Kleinsten über die Unebenheiten des Geländes zu führen: ‚Wie bringt Ihr das nur fertig, diese schönen, lieben Kinder umzubringen? Habt Ihr denn kein Herz im Leibe?‘ … Ich erlebte auch, dass eine Frau aus der Kammer beim Zumachen ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief: ‚Lasst doch wenigstens meine Kinder am Leben.‘ So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden