Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina

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Kadavergehorsam des nationalsozialistischen Mitläufertums war der gesamtgesellschaftliche Ausdruck von Strukturen, die in der Familie und ihren patriarchalischen Erziehungsformen bereits angelegt waren.

      „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erziehung von der als selbstverständlich geltenden obersten Sekundärpflicht des Gehorsams bestimmt. Ziel waren Anpassung und Unterwürfigkeit unter die jeweils gegebenen herrschaftlichen Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, und Ungehorsam sollten schon die Kinder als Schuld erleben. Dazu diente die ‚schwarze Pädagogik‘, die Dressur der ‚von Kindesbeinen an bösen‘ Raubtiere mit Zuckerbrot und Peitsche, in der Regel durch den Vater, der auch juristisch berechtigt war, seine Kinder und seine Frau zu schlagen. So gab er weiter, was er selbst als Kind erfahren hatte: Schmerz, Trauer, Vertrauensverlust, Entwürdigung, Schuldgefühle und Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Durch solche Beschämungen und Kränkungen wurden Trotz, Verstocktheit, Verbitterung, Hass, Rache und Rohheit begünstigt oder gar geschaffen, die sich dann auswirkten, wenn die ursprünglichen Opfer Gelegenheit bekamen, selbst zu Tätern zu werden. So wurde auch ich mit Rohrstock zu Hause und in der Schule erzogen, und man marschierte im Gleichschritt in der Hitlerjugend mit … Als Kind hatte ich ja – wie schon mein Vater – Mitgefühl nicht erlernt oder durch Schläge verlernt. Barmherzigkeit war schon vorher in der bürgerlichen Gesellschaft kein Wert und wurde im ‚Dritten Reich‘ manchmal schon mit dem Tode bestraft, wenn es nur geäußert wurde. Ich schäme mich heute noch meines Erstaunens, als ein Freund angesichts einer Frau mit Judenstern zu mir sagte: ‚Die armen Juden!‘ So etwas hatte ich sonst weder gehört noch gefühlt und selbst kurz vorher eingestimmt in den Ruf ‚Jude, Jude!‘, den Spielkameraden erhoben, als auf der anderen Straßenseite ein jüdischer Junge mit gesenktem Kopf vorüberging.53

      Und die Tochter eines SS-Erschießungskommandoleiters in der Ukraine kommentiert:

      Mein Vater war ein richtig korrekter Beamter, der bestimmt nie eine Schummelei gemacht hat mit einer Reisekostenabrechnung oder Ähnlichem. Er hatte das preußische Pflichtbewusstsein. Vor Gericht hat er gesagt, er habe gewusst, dass es Unrecht war, aber alles andere wäre absurd gewesen, er hätte keine Möglichkeit gehabt, diese Befehle zu verweigern, die er bekommen hat und weitergegeben hat. Es ist dasselbe Pflichtbewusstsein, das sonst auch etwas Positives sein kann, das ihn aber in dieser Situation versagen lässt: Wenn der Staat mir befiehlt, egal, wie verbrecherisch es ist, dann tue ich es einfach, weil ich ein pflichtbewusster Beamter bin.54

      Die Theologin Dorothee Sölle zieht daraus die Schlussfolgerung: „In unserer christlichen, deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Gehorsam eine katastrophale Rolle gespielt. Ich vermute, dass wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren, und dass diese Kritik radikal sein muss.“55 Der Ausbruch der 68er Generation in den „Ungehorsam“ sollte auch im Licht dieser Gedanken betrachtet werden.

       Wenn der Mensch sich anmaßt, eine Welt zu erschaffen, in der das Böse eliminiert ist, dann richtet er eine Welt des Schreckens ein, in der das Böse herrscht.

      Dierk Juelisch, Psychoanalytiker56

      Adolf Hitler erklärte im April 1943 dem ungarischen Reichsverweser von Horty:

      Sie (die Juden) sind wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken kann. Das ist nicht grausam, wenn man bedenkt, dass sogar unschuldige Naturgeschöpfe wie Hasen und Rehe getötet werden müssen, damit kein Schaden entsteht. Weshalb soll man die Bestien, die uns den Bolschewismus bringen wollen, mehr schonen?57

      In einer Rede 1943 erntete Heinrich Himmler von niemandem Widerspruch, als er sagte:

      Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ein ganz schweres Kapitel erwähnen … Ich meine jetzt die Ausrottung des jüdischen Volkes … Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Das durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.58

      Es ist verblüffend, wie Himmler hier auch implizit zum Schweigen der Täter aufruft! Jürgen Müller-Hohagen kommentiert:

      Diese Menschen waren verschmolzen mit der ‚Vision des Gärtners‘. Die ganze Gesellschaft sei nach dem Modell eines perfekten Gartens zu gestalten und alles Störende wie Unkraut auszurotten. Mit dieser Vision verschmolzen zu sein bedeutet den Einsatz der ganzen Person für dieses Ziel, und hier geht es aber, wie das Bild des perfektionistischen Gärtners anspricht, um Vernichtung.59

      Der polnisch-britische Soziologe Zygmund Baumann bringt es auf den Punkt:

      Der moderne Genozid ist ein Element des ‚Social Engineering‘. Die Beseitigung des Störenden sei eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. Diese Zielsetzung ist die Vision einer besseren, von Grund auf gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozid ist ein Instrument des ‚Social Engineering‘, mit dem eine soziale Ordnung etabliert werden soll, die dem Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht […] Das ist […] die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gelegt […] Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung […] Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schönere Ordnung des Gartens verhindert […] Der moderne Genozid, wie die moderne Kultur allgemein, ist eine gärtnerische Tätigkeit, sozusagen eine gärtnerische Pflicht innerhalb der gesamtgestalterischen Aufgabe […] Alle Vorstellungen von einer Gesellschaft als Garten verknüpfen bestimmte soziale Gruppen mit dem Begriff Unkraut: Unkraut muss ausgesondert, gebändigt, an der Ausbreitung gehindert werden, von der Gesellschaft ferngehalten, und wenn dies nichts nützt, vernichtet werden.60

      Jürgen Müller-Hohagen bemerkt dazu:

      Es ist ein erschreckendes Bild. Wir lieben Gärten, finden sie schön – und dann diese Nähe zum Holocaust? Aber dafür spricht nicht nur, dass mit dem Ungeziefervertilgungsmittel Zyklon B Menschen vernichtet wurden, sondern das Projekt eines sauberen Gartens hat wirklich viel mit den Vorstellungen zu tun, die visionäre Gewaltherrscher von Staat und Gesellschaft haben. Dann liegen aber Horror und Normalität eng beieinander, der Horror, der den ‚Schmutzigen‘ von denen bereitet wird, die sich für berechtigt halten und die Macht haben, zwischen ‚Sauber‘ und ‚Schmutzig‘ zu unterscheiden und vorzugehen wie ein Gärtner angesichts von Kräutern und Unkräutern […] Diese Bilder vom Gärtner helfen mir, manches Monströse eher zu begreifen, manches auf den ersten Blick nur monströs wirkende und doch von ‚normalen‘ Leuten Begangene, die Nähe von Kultur (edel auftretend) und bürokratisch organisiertem Massenmord, von Normalität und Terror […] Wie können Menschen derartige Grausamkeiten gegen Mitmenschen verüben? Wie kann sich die Sozialisation von ansonsten durchaus oder sogar sehr ‚normalen‘ Menschen zu Teilhabern an dieser ‚gärtnerischen Vision‘ gestalten? Die Vision des Gärtners, die man als kalt missverstehen könnte, hilft gerade, von den falschen Fragestellungen abzusehen, also Nazi-Täter nicht mehr bevorzugt nach dem Modell des Triebtäters begreifen zu wollen, sondern nach dem eines beflissenen Gärtners.61

      Die Vorstellung vom verwahrlosten ungepflegten Osten wurde spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts greifbar, als die ärmsten ostjüdischen Emigranten auf der Flucht vor den Pogromen des russischen Zaren die Ostgebiete besiedelten. Sie galten als rückständig, schmutzig, unkultiviert und als Habenichtse. Der Krieg festigte dieses Bild als zu unterwerfenden und anschließend zu kultivierenden Raum gleich einem ungepflegten, dringend zu bearbeitenden Garten.62 Zum perfekten Garten gehörte konsequenterweise die Vorstellung einer ethnischen Flurbereinigung, die besonders von Medizinern

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