Das Schweigen redet. Johannes Czwalina

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Das Schweigen redet - Johannes Czwalina

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der eine Straftat begangen hat. Wer unter Einbezug der Mitläufer die gesamte Bevölkerung zu Tätern erklärt, erklärt auch wieder nichts.73 Dennoch müssen wir jenseits juristischer Festlegungen und Beschränkungen in unserem Kopf und in unserem Herzen den Täterbegriff von der rein strafrechtlichen Definition loslösen. Nur so kriegen wir den Blick frei für die moralische Mitverantwortung der Mehrheit des deutschen Volkes.

      Martin Buber sagte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1953:

      Wenn ich an das deutsche Volk der Tage von Auschwitz und Treblinka denke, sehe ich zunächst die sehr vielen, die wussten, dass das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten; aber mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden. Sodann taucht vor mir die Menge all derer auf, denen das der deutschen Öffentlichkeit Vorenthaltene unbekannt blieb, die aber auch nichts unternahmen, um zu erfahren, welche Wirklichkeit den umlaufenden Gerüchten entsprach; wenn ich diese Menge im Sinne habe, überkommt mich der Gedanke an die mir ebenfalls wohlbekannte Angst der menschlichen Kreatur vor einer Wahrheit, der sie nicht standzuhalten können fürchtet. Zuletzt aber erscheinen die mir aus zuverlässigen Berichten an Angesicht, Haltung und Stimme wie Freunde vertraut Gewordenen, die sich weigerten, den Befehl auszuführen oder weiterzugeben, und den Tod erlitten oder die erfuhren, was geschah, und weil sie nichts dagegen unternehmen konnten, sich in den Tod gaben. Ich sehe diese Menschen ganz nah vor mir, in jener besonderen Intimität, die uns zuweilen mit Toten, und mit ihnen allein, verbindet; und nun herrscht in meinem Herzen die Ehrfurcht und die Liebe zu diesen deutschen Menschen.74

      Das Bestehen eines jeden gesellschaftlichen Systems ist nur dann gewährleistet, wenn es von einer Unzahl sich ergänzender Willensentscheidungen getragen wird. Die Schweigenden, die Mitläufer, sind es, welche die politischen Eliten erhalten. Diese tausendfache individuelle Akzeptanz oder Gleichgültigkeit ist es, die den Erfolg der Schreckensherrschaften gewährleistet. Diese Wahrheit gilt nicht nur in Bezug auf das Dritte Reich, sondern auch in Bezug auf die DDR. Ohne die stillschweigende Billigung der schweigenden Mehrheit hätten das Schreckenssystem Hitlers und die Diktatur der SED niemals funktionieren können. Man kann die Mitschuld der Mitläufer, zu denen die meisten unserer Vorfahren gehörten, nicht schwer genug gewichten.

      Der mutige Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer spürte diese Schuld und schrieb am 20. Juli 1944 resigniert und von großen Selbstzweifeln geplagt seinen Beitrag „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“:

      Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?75

      Diese Haltung des schweigenden Mitläufertums hörte nach dem Krieg nicht auf. Arthur von Schirach, Sohn des Kriegsverbrechers Baldur von Schirach, zeichnet die Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in den fünfziger Jahren nach:

      „Dass Ansbach eine ‚braune Hochburg‘ gewesen war, erfuhr ich in all den Jahren meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren nicht. Es lag eine bleierne Schwere und Stummheit über dieser Zeit. Es wurden keine Fragen beantwortet und keine gestellt. Verborgen und verschwiegen waren auch die Hinterlassenschaft und das Erbe der jüdischen Vergangenheit in der Stadt.“76 So ging es auch mir in meiner Kindheit. Ich habe diese Schwere und Stummheit gespürt. Nicht nur in dem Haus meiner Kindheit, in dem die Gegenwart der deportierten jüdischen Familie noch in der Luft lag, sondern auch auf dem Schulweg am kleinen und großen Wannsee entlang, wo jedes herrschaftliche Haus seine stumme Geschichte mir zu erzählen schien, ohne dass ich Fragen stellen durfte, weil ich sowieso nicht mit einer Antwort rechnen konnte.

      In der zweiten und dritten Generation ist die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern so nicht mehr stimmig. Es handelt sich in der zweiten Generation vielmehr um zwei unterschiedliche Arten von Opfern, die zum Teil gleiche, aber zum Teil auch ganz unterschiedlich geartete Erblasten zu tragen haben. Deswegen müssen wir die Täter- und die Opferkinder auch getrennt betrachten. Die Kinder der Opfer hatten mehr Schwierigkeiten, ein „erfolgreiches“ Leben zu führen als die Kinder der Täter. Auch war, wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt werden konnte, das Schweigen der Opfer ein anderes als das Schweigen der Täter. Dem Schweigen der verfolgten Eltern lagen die erlebte Angst und Lebensbedrohung, aber auch die Scham angesichts des eigenen Überlebens zugrunde. Das Schweigen der verfolgenden Täter und NS-Unterstützer, die Menschen ihre Existenzberechtigung zu rauben versuchten und dies zum Teil auch bis zur Vernichtung umzusetzen halfen, ist hingegen auf die Angst vor der Entdeckung ihrer aktiven oder passiven Beteiligung zurückzuführen.

      Beide Gruppen der nachfolgenden Generation haben gemeinsam, dass sie mit diesem Schweigen ihrer Väter aufwuchsen und erst später in ihrem Leben bemerkten, dass dieses Schweigen sich wie ein unsichtbarer lähmender Schleier über ihr Leben gelegt hatte.

      Der Psychologe Müller-Hohagen schreibt dazu:

      Das bewusste Verschweigen auf Seiten der Eltern führt bei den Kindern zu Störungen auf der unbewussten Ebene. Das von den Eltern aktiv aus der Kommunikation Ausgeschlossene ist dann für die Kinder direkt nicht mehr erkennbar, wohl aber, und das hat etwas Typisches, wird es als Loch in der Wahrnehmung wirksam. Mit solchen Löchern kann das Kind sich nicht auseinandersetzen, und deshalb haben sie etwas Unheimliches, Diffuses, machen ungreifbare Angst, führen zu Verzerrungen, von denen nicht nur die Inhalte des Seelenlebens betroffen sind, sondern die seelischen Strukturen selbst.77

      Die Kinder wissen, dass gewisse Fragen nicht gestellt werden dürfen. Die fehlende Aufklärung über die eigenen Wurzeln erkennen sie mit zunehmendem Alter als Hypothek, die ihnen im Vergleich zu anderen Zeitgenossen Lebensqualität nimmt. Sie sind dadurch Gefühlen und Stimmungen ausgesetzt, die sie nicht zuordnen können und die sie vom unbeschwerten Erlebnisraum Gleichaltriger fernhalten. Diese Erkenntnis wächst mit zunehmendem Alter und kann starke Aggressionen und Konflikte mit den schweigenden Vätern oder auch Müttern auslösen.

      Die Eltern, ob sie Opfer oder Täter waren, haben alles meist bewusst erlebt. Sie konnten das Erleben sozusagen live und mit der ihnen zur Verfügung stehenden Rationalität einordnen. Sie sahen mehr oder weniger klar, wer die Handelnden waren, warum sie es taten und wie sie es taten.

      Die nachfolgenden Generationen waren aber nicht oder nicht bewusst dabei. Als Nachkommen erbten sie lediglich die Gefühlslast und die damit verbundene Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Sie spürten die Bedrückung ihrer Gefühlserbschaft, aber sie konnten diese nicht einordnen. Deswegen sind sie als zweite Generation dringend auf Aufklärung und Transparenz angewiesen, ansonsten bleiben sie Opfer des Ungesagten. Bleibt die Aufklärung aus, reagieren sie verständlicherweise mit Rückzug, Wut und Aggression sowie mit depressiven Fehlentwicklungen aller Art. Die gefühlsmäßige Last der Nachkommen äußert sich in vielfältigen Formen: Orientierungslosigkeit, Gefühle von Betäubung und Bedrohung, dumpf empfundene Wahrnehmungen, unbewusste Schuldgefühle.

      Die generationsübergreifende Übertragung ist ein Vorgang, welcher die Erlebnisse der Generation, die alles bewusst erlebt hat, der nächsten Generation als Gefühlserbe überträgt und so zu einem unbewussten Erbe transformiert. Das unbewusste Erbe aufzuarbeiten verursacht in der Zusammenfassung aller Faktoren den viel größeren Aufwand als die Aufarbeitung des bewusst Erlebten.

      Bevor wir nun Opfer- und Täterkinder separat betrachten, fasst Claudia Brunner, die besagte Großnichte des Massenmörders Alois Brunner, das Gemeinsame treffend zusammen, als sie von einem Treffen der Nachkommen von Tätern und Opfern in Wien im Oktober 1999 berichtet: „Bei aller Verschiedenheit zwischen unseren Biografien und Geschichten entdeckten wir erstaunliche

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