Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
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Der Psychologe Weitzel-Polzer ergänzt die Liste durch folgende weitere Beobachtungen:
Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen
gestörte Selbstwahrnehmung mit Ohnmachtsgefühl
Selbstbezichtigung, Beschmutzungsgefühl oder Stigmatisierung
das Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden
ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter
unrealistische Einschätzung des Täters, Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
Übernahme des Überzeugungssystems des Täters
Beziehungsprobleme mit Isolation und Rückzug
gestörte Intimbeziehungen
wiederholte Suche nach einem Retter
anhaltendes Misstrauen
Verlust fester Glaubensinhalte
Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
andauernde Gefühle des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit
Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)
Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten
Suizidgedanken
Depressionen
Alkoholmissbrauch
Hinzu kommen noch in bestimmten Situationen Angst auslösende Assoziationen, die Erinnerungen wachrufen wie Hundegebell, dichtgedrängte Menschenmassen, Feuerwerkskörper, Kindergeschrei oder Sirenen. Opfer des Holocausts haben oft das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Verlassenseins und des Nichtgewolltseins.20
Bei einer so umfangreichen Liste von Symptomen ist es sehr verständlich, dass manche Opfer das Erlebte nicht nur verdrängen, sondern sogar versuchen, es von ihrer eigenen Person abzuspalten, so als wäre das Verbrechen nicht an ihnen, sondern an jemand anderem begangen worden.
Zwischen Überlebenskraft und Zusammenbrüchen
Gerade wegen dieses verdrängenden Schweigens waren viele paradoxerweise zu einem vollen, nützlichen und produktiven Leben imstande, immer danach strebend, ihre unaussprechlichen Verluste wiedergutzumachen.
Das unbewusste Schweigen diente dazu, den Überlebenden in ihrem Daseinskampf zu helfen. Die Welt nach 1945 forderte von den Zurückgekommenen Verleugnungen zugunsten der Wiederanpassung: „Und tatsächlich haben sie sich angepasst, haben Familien gegründet, haben Karriere gemacht. Und es fehlte ihnen die Zeit zum Sprechen.“21
Forschungsergebnisse der israelischen Sozialmedizin weisen darauf hin, dass man den überlebenden Opfern im Alltag ihre verborgene verschwiegene Last oft nicht ansah.22
Im Gegenteil: Sie wirkten oberflächlich betrachtet oft zäher und abgehärteter als nicht betroffene Zeitgenossen.
Vierzig Jahre nach der Schoah, nach einem abgehärteten Leben, brechen auffallend viele psychisch zusammen und suchen erst am Ende ihres Lebens – wesentlich öfter als andere Gleichaltrige – psychologische Beratung. Sie wollen sich jetzt aussprechen, meiden aber für ihr Anliegen Kliniken und Psychiater.
Der Holocaustüberlebende und Kinderpsychiater David de Levita (geb. 1926) begründet dieses Phänomen so: „Im Laufe der Jahre, nachdem man überlebt hat, halten sich zwei Komponenten die Waage: die Schuld, dass man überlebt hat, und der Triumph, dass man überlebt hat. Im vorgerückten Alter jedoch ist der Triumph dahin. Man steht der unausweichlichen Tatsache des eigenen Todes (ein zweites Mal) gegenüber. Diese Verschiebung ist der zentrale Konflikt des Überlebenden. Man hat in seiner Psyche verinnerlicht, dass man für immer dem Reigen des Todes entsprungen sei. Und jetzt zeigt sich, dass schließlich niemand dem Tod entkommt. So gibt es zwei Sorten von Überlebenden: Den einen geht es im Laufe ihres Lebens besser, weil sich ihr Schuldgefühl verringert. Die anderen brechen nach einer Periode der Latenz zusammen, weil das Gefühl des Triumphierens über den Tod, das sie in Gang hielt, im Angesicht des Todes zusammenschrumpft. Albträume, Angst- und Panikanfälle plagen plötzlich die älteren Leute der ersten Generation, die körperlich kerngesund sind und ein erfolgreiches Leben hinter sich haben. Die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes ist hier am stärksten, stärker als bei der relativ hohen Zahl der Überlebenden, die von körperlichen Erkrankungen geplagt werden. In ihrem Körper ist der Tod gleichsam bereits tätig und die Konfrontation somit weniger plötzlich.“23
Das Schuldgefühl, überlebt zu haben
Das Vorhandensein von Schuldgefühlen sagt noch nichts über objektive Schuld aus. So haben viele, die in der NS-Zeit nichts Böses getan haben, besonders die Nachkommen von Opfern, Schuldgefühle, etwa in der Art, dass sie sich beschuldigen, nichts oder nicht genügend Gutes bewirkt zu haben, oder dass sie sich selbst Vorwürfe machen, unverdient überlebt zu haben, während ihre engsten Angehörigen ermordet wurden.
Die eigentlich Schuldigen empfinden seltsamerweise häufig keine Schuldgefühle, während sich Menschen, die eigentlich schuldlos sind, mit Schuldgefühlen quälen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Schuldgefühlen ist somit auch keine Messlatte für das Ermitteln tatsächlicher, objektiver Schuld.
Im Jahr 2001 fragte ich Ursula Meißner, die als 20-jährige Schauspielerin unter Gustaf Gründgens in Berlin die jüdische Familie des Konrad Latte über längere Zeit in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, nach ihren Beweggründen. Sie antwortete: „Ich habe nur meine Pflicht getan mit meiner bescheidenen Hilfe, aber was mir im Rückblick viel Schmerz und Schuldgefühle bereitet: Warum habe ich nicht viel mehr getan und die mahnende Stimme meines Gewissens nicht viel häufiger und mehr beachtet?“
Die Reaktion auf eine Traumatisierung besteht also in oft unbewussten Scham- und Schuldgefühlen. Den direkt Betroffenen fällt es auch deshalb besonders schwer, sich zu öffnen. Sie ertragen das Leben am besten, wenn sie über das Erlebte schweigen. Dennoch besteht bei ihnen das unausgesprochene Bedürfnis, dass die Traumatisierung von ihrer Umgebung gesehen und anerkannt wird. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Menschen treffen, die das Dilemma behutsam aufspüren.
Nicht wenige waren von Überlebensschuldgefühlen geplagt, im Sinne von: „Alle anderen mussten sterben, ich habe es doch nicht verdient zu überleben.“
So empfand auch Erika Landau:
In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht. Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche