Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
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Ich möchte an dieser Stelle wenigstens ein Beispiel anführen, das belegt, dass Schuldbewusstsein durchaus vorhanden war. Es gibt keinen Täter, der nichts von seiner Schuld weiß. Das macht folgendes Beispiel für Mitleid plausibel:
Adolf Eichmann wurde im Herbst 1941 auf Befehl des Gestapochefs Müller nach Minsk geschickt, um dort „praktische Erfahrungen für die Endlösung“ zu sammeln. Darüber fertigte er zeitnah einen Bericht an:
Es war ein kalter und trüber Tag, als ich auf dem Gelände ankam, das das Einsatzkommando ausgewählt hatte. Mich fror, obwohl ich einen Ledermantel anhatte, der mir bis zu den Knöcheln reichte. Auf dem Gelände war ein großer Graben ausgehoben. Es schien mir ein Panzergraben zu sein, und als ich hinzutrat, sah ich, dass der Graben schon gut zur Hälfte mit Leichen angefüllt war, mit nackten Leichen, Männern, Frauen, Greisen und Kindern. Dann führte man einen neuen Trupp Juden heran. Es mögen an die hundertfünfzig gewesen sein. Sie mussten sich in der Kälte nackt ausziehen und in den Graben auf die Leichen steigen. Das alles ging mit einer unheimlichen Ruhe vor sich. Niemand klagte, niemand weinte. Im letzten Augenblick, als das Erschießungskommando die Maschinenpistolen bereits entsicherte, sah ich, wie eine jüdische Frau ihr Kind – es mochte ein oder zwei Jahre alt sein – in die Arme riss und sich umdrehte, als wolle sie das Kind schützen. Das ging mir nahe. Ich wollte hinzuspringen, um das Kind zu retten, aber ich kam zu spät. Schon peitschten die Pistolenkugeln; das Kind wurde in den Kopf getroffen, und das Gehirn spritzte auf meinen Mantel. Ich bin dann mit meinem Fahrer in die Unterkunft gefahren, und wir haben das Blut und die Gehirnspritzer entfernt. Mir war klar, dass dies eine unmenschliche Lösung war, und ich fuhr sofort nach Berlin, um Müller zu melden, was ich erlebt hatte, und ihn zu fragen, ob es nicht möglich sei, eine humanere Methode anzuwenden …33
Wie der spätere Eichmann-Prozess zeigt, gelang es den Tätern, den eigenen Schuldanteil zu verdrängen. Mit dieser Verhaltensweise konnten sie meist erstaunlich gut psychisch überleben. Unentdeckte Täter hatten oft ein normales Leben ohne sichtbare psychische Folgen führen können. Sie meisterten diese Lebenslüge viel besser als ihre Kinder, die gar nicht selbst am Holocaust beteiligt waren. Es ist bekannt, dass Täter und übrigens auch Mitläufer fast nie den Weg in eine psychologische Beratungspraxis oder in die Seelsorge fanden, um sich dort als Täter zu erkennen zu geben.
Der gleichnamige Sohn von Hitlers Stellvertreter Martin Bormann (der in den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tod verurteilt wurde) fand durch seinen persönlichen Verarbeitungsprozess den Weg ins Priesteramt. Von dem israelischen Psychologen Dan Bar-On wurde er gefragt: „Hat Ihnen einmal jemand Gräueltaten gebeichtet, an denen er während des Vernichtungsprozesses beteiligt war?“ Darauf antwortete Bormann:
Nein, daran kann ich mich nicht erinnern … doch, Moment, es gab eine Situation, aber ich bin nicht sicher, ob es das ist, was Sie suchen. Er kam zu mir, kurz bevor er starb. In seiner Beichte sagte er mir, dass in all den Jahren ihm die braunen Augen eines sechsjährigen Mädchens keine Ruhe gelassen hätten. Er war als Wehrmachtssoldat in Warschau während des Aufstandes im Ghetto. Sie hatten die Bunker zu räumen, und eines Morgens kam ein sechsjähriges Mädchen aus einem dieser Bunker zu ihm gelaufen und hielt ihm die ausgestreckten Arme entgegen. Er konnte sich noch an den Blick ihrer Augen erinnern, erschreckt und vertrauensvoll zugleich. Dann befahl ihm sein Vorgesetzter, sie mit dem Bajonett niederzustechen, was er auch tat. Er hat sie getötet. Aber der Blick in ihren Augen hat ihn sein Leben lang verfolgt. Und er kam zu mir, um es zu beichten. Er hat es zuvor nie jemandem erzählt.34
Bar-On:
Sagen Sie, vielleicht können Sie mir helfen zu verstehen: Wieso waren es nur diese Augen? Warum erinnerte er sich nicht an die Augen von all den anderen, die er vielleicht auch getötet hat? Warum war er der Einzige, der gebeichtet hat? Was machten all die anderen mit den Augen der Kinder und Frauen, die sie hilflos anschauten, bevor sie getötet wurden? Können Sie mir sagen, wie er diese Erinnerung die ganze Zeit für sich behalten konnte?35
Bar-On forschte bei seinen Deutschlandreisen in den 80er und 90er Jahren bei Priestern, Ärzten und Psychiatern nach Beichtsituationen von Nazitätern. Von 80 befragten Medizinern konnte keiner von einer solchen Beichte berichten.
Das berühmte Heidelberger Psychologenehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich stellte in den 60er Jahren über den psychischen Gesundheitszustand der Deutschen fest: „Aus den Aufzeichnungen von über 4000 Patienten geht hervor, dass wir nur extrem wenige Anhaltspunkte für den Zusammenhang ihrer gegenwärtigen Symptome mit Erlebnissen der Nazi-Zeit fanden. Deklarierte Nazis erschienen so gut wie nie.“36
Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser resümiert Ende der 90er: „Es scheint so, dass wir uns damit abfinden müssen, dass die Täter und Mitläufer keinen Zugang zu Scham und Schuld gefunden haben.“37
Der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer kommt zu der Erkenntnis, dass es für den KZ-Mörder, der viele Menschen grausam getötet hat, oder für den KZ-Unternehmer, der vom Tod vieler Tausender profitiert hat, viel leichter ist, Schuld zu verleugnen und ein normales Familienleben zu führen, als es für die Opfer war, die meist unter schwersten Schuldgefühlen leiden, weil sie überlebt haben. Die Täter hatten nur mit ihrer Angst, ertappt zu werden, umzugehen.38
Der Autor Norbert Lebert schreibt:
Kein Zugang zu Scham und Schuld: Vielleicht ist das eine Formel, mit der die 50er Jahre in Deutschland ganz gut zu beschreiben sind. Man arbeitete am Wiederaufbau, man vergnügte sich, man genoss nach langen dunklen Jahren das Leben. Viele Menschen erzählen, wie überrascht sie gewesen sind, dass es so schnell wieder aufwärtsgegangen ist, das hätten wir nie gedacht. Mein Vater hat sein Leben in den 50er Jahren als eine Art Rausch beschrieben: Die Lust zu leben war so groß, alles wollte man aufsaugen, bloß sich nicht mit irgendwelchen schweren Dingen belasten.39
Der Preis dieser Euphorie war hoch. Aus vielen Gesprächen meiner seelsorgerlichen Tätigkeit weiß ich, dass die Kinder dieser Generation oft sehr darunter gelitten haben, dass sie zu ihren Eltern, speziell zu ihren Vätern, mit Fragen über Sinn und Werte im Leben nicht vordringen konnten. Zu ihren Fragen zählte eben auch die Frage nach der Lebenseinstellung ihrer Eltern in der NS-Zeit. Diese entschieden sich oft auf ganzer Linie für ein Verschweigen und Blockieren entlarvender Fragen. Die Wut über diese überhebliche Sprachlosigkeit – auch das weiß ich aus vielen Gesprächen – drängte viele der 68er-Bewegung auf die Straße und nicht selten auch zur Gewaltbereitschaft. Nicht die erlittenen oder ausgeübten Verbrechen der Eltern, sondern deren Verweigerung auf jedes Recht zu verstehen und zu verarbeiten und damit eine Chance zur Bewältigung zu bekommen, führte die Kinder in persönliche Konflikte, Wut, Depressionen, Lebensuntüchtigkeiten und Fehlentwicklungen mancher Art.
Rechtfertigungen
Der Tötungsapparat der Lager war in so viele „Scheiben“ geschnitten, dass jeder Schnittfeldverantwortliche schlussendlich ein Argument dafür fand, selbst nicht verantwortlich gewesen zu sein, weil er nur zugeschnittene Aufgaben korrekt und gewissenhaft ausgeführt hatte. Der Mann auf der Rampe bei der Selektion hatte ja nur die körperliche Kondition des Einzelnen zu prüfen, der Mann im Versuchslabor war ja nur für den Teil der Diagnostik verantwortlich, der Mann in der Lageraufsicht war ja nur für Ordnung und Disziplin zuständig, ebenso die Frauen in der Desinfektionsbaracke nur für die Hygiene, bis hin zu den Wachpersonen am Ofen, die ja nur die Tür aufmachen bzw. schließen mussten. Es handelte sich um ein System, das im Nachhinein vielen die Ausrede ermöglichte, nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen zu sein, ohne eigene Verantwortung für das Töten gehabt zu haben. Jeder konnte es auf den anderen abschieben. Jeder konnte sich sogar als Opfer bezeichnen. Das war die Alltagserfahrung einer bürokratisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft. Und dieses Bild entsprach der Rechtfertigung zahlreicher Täter und Mitläufer.
Martin Bormann, Sohn des