Die Kunst, verantwortlich zu erziehen. Reinhold Ruthe
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Nur solche Menschen, die eine verantwortliche Erziehung erfahren haben, sind der Lage, später selbst verantwortlich zu handeln.
Wer verantwortlich erziehen und handeln will, braucht ein Gegenüber, dem er verantwortlich ist. Denn Verantwortung bedeutet: Ein Wort trifft mich und ruft mich zur Antwort. Der Höhergestellte zieht den Untergebenen zur Verantwortung. Das ist ein personhafter Vorgang, der sein Urbild darin hat, dass der lebendige Gott als Herr den Menschen ruft:
„Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ (1. Mose 4,9).
Kain lehnte die Verantwortung ab. Er wollte nicht gefordert und haftbar gemacht werden. Die Konsequenz dieser Verantwortungslosigkeit kennen Sie. Das heißt für uns alle: Wir können nur von Verantwortung reden, wenn klar ist, vor wem der Mensch Verantwortung übernimmt. Menschen, die keinen Herrn über sich anerkennen, die keine klaren Maßstäbe bejahen, legen sich Antworten nach eigenem Gutdünken zurecht.
Verantwortung wirkt und lebt zwischen Personen. Sie ist die Antwort auf alle Herausforderungen des Lebens. Wir drücken uns als Eltern und Erzieher nicht. Und Kinder, die gelernt haben, Verantwortung zu tragen, machen nicht was sie wollen und überlassen diese Pflicht leichtfertig anderen Menschen oder Institutionen.
Kinder und Jugendliche brauchen ein funktionierendes Gewissen. Ein Gewissen, das nicht schläft, das nicht träge und dickfellig auf Moral und Maßstäbe reagiert. Wie gut, wenn es Eltern und Erziehern gelingt, dass der Geist Gottes der Lenker und Wächter unseres Gewissens wird!
Wie wollen Frauen und Männer in der Wirtschaft, in der Kirche und in der Gesellschaft verantwortlich handeln, wie wollen sie allgemein gültige Maßstäbe realisieren, wie wollen sie vorbildhaft leben, wenn alle Regeln, Gebote und Leitbilder fragwürdig geworden sind? Der Tagesthemen-Moderator Tom Buhrow hat es kürzlich in der katholischen Akademie in Hamburg unmissverständlich formuliert:
„Ich habe das Gefühl, was Eltern, Kinder, die Gesellschaft im Moment zutiefst bewegt und verunsichert, ist: Du weißt nicht mehr, wie die Regeln sind, weil wir alle Regeln infrage gestellt haben.“1
Kinder, Erwachsene, Eheleute und Führungspersonen, die Verantwortung tragen, sind kooperationsbereit. Zugehörigkeit, Gleichwertigkeit und Zusammenarbeit sind lebensnotwendig, und zwar in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, in der Gesellschaft und unter Völkern. Fehlt eine dieser Komponenten, gibt es Reibung, Machtkämpfe, Auseinandersetzungen und Krieg. Keiner trägt Verantwortung. Jeder will sich durchsetzen, keiner gibt nach, keiner will teilen, keiner fühlt sich für das Wohl des anderen zuständig.
Dieser Titel ist die Neubearbeitung meines Buches „Autorität neu entdeckt“. Offensichtlich ist Autorität ein Begriff, der immer noch in weiten Kreisen unserer Bevölkerung falsch verstanden wird. Viele vermuten in ihm einen autoritären Anspruch. Verantwortliches Handeln aber hat mit Machtanspruch, mit Kommandoton, mit blindem Gehorsam, mit Manipulation und Gewalt nichts zu tun.
Verantwortliches Handeln
will nicht entmündigen, sondern mündig machen,
will nicht demütigen, sondern stärken,
will nicht unterwerfen, sondern Selbstwert aufbauen,
will nicht überreden, sondern überzeugen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass sie für Erziehung, Bildung und für das Wahrnehmen von Verantwortung auf allen Ebenen und vor Gott brauchbare Anregungen finden.
Reinhold Ruthe
Januar 2011
Kapitel 1
Die Familie ist der erste und wichtigste Bildungsort
Die Wurzeln der Familie reichen zurück bis in die Frühzeit der Menschheit. Sie ist die kleinste, aber auch die intensivste Lebensgemeinschaft, die Keimzelle der Gesellschaft. Hier lernen Kinder und Jugendliche, sich auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Ehe und Familie werden darum im Grundgesetz (Artikel 6, Absatz 1) unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Etwa 40 % der Bevölkerung leben als Familie in Deutschland, das heißt: Ein oder zwei Elternteile mit mindestens einem minderjährigen Kind wohnen in einem gemeinsamen Haushalt.
Die Überschrift dieses Kapitels stammt von dem idea-Redaktionsleiter Wolfgang Polzer. Die EKD-Synode der evangelischen Kirche in Deutschland, die 2010 tagte, hat ein Papier veröffentlicht, in dem die Sätze stehen:
„Bildungsgerechtigkeit entscheidet sich am Anfang - deshalb sind Eltern in ihrer Erziehungs- und Bildungsaufgabe zu stärken, denn die Familie ist der erste und wichtigste Bildungsort.“
Polzer kommentiert kritisch:
„Dem wäre nichts hinzuzufügen, spräche nicht die Realität eine andere Sprache. Da wird die Lösung aller Bildungsprobleme vor allem im Ausbau von Kindertagesstätten und institutionalisierter Erziehung vom Babyalter an gesehen. Das ist aber ein Irrweg, wenn nicht gleichzeitig die Familie gefördert wird. Denn Mutter und Vater bleiben für Kinder die wichtigsten Personen für ihre Entwicklung. Noch so gut ausgebildete Erzieherinnen und noch so gut ausgestattete Einrichtungen können Mutterliebe auch nur annähernd ersetzen. Freilich: Die gesellschaftliche Realität steht diesem Ideal auf vielfache Weise entgegen. Wenn es in vielen Fällen aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht mehr möglich ist, dass eine Mutter in den ersten sechs Jahren sich nur ihren Kindern widmen kann, dann ist das ein Skandal.“1
Kernfamilie oder Eltern-Kind-Gemeinschaften
Etwas mehr als 300 000 Familien, die aus sechs bis sieben Mitgliedern bestehen, gibt es in Deutschland. Etwa 2 Millionen Menschen, die als Großfamilien in einem schrumpfenden Kleinfamilienparadies aufwachsen. Immer mehr Eltern verzichten aufs Heiraten. Knapp 60 % aller Geburten des Jahres 2007 in Ostdeutschland waren nichtehelich. In Westdeutschland betrug der Anteil etwa 24 %. Diese Wandlung in der Familienstruktur hat die Bundesreagierung veranlasst, den Familienbegriff umzuformulieren. Das neue Lebensformenkonzept spricht von Eltern-Kind-Gemeinschaften. Die Kinder können leibliche Kinder, Stief-, Pflege- oder Adoptionskinder von beiden oder von einem Elternteil sein.
Wertvorstellungen werden vor allem in der Familie weitergegeben
Wenn allerdings in Deutschland jede dritte Ehe wieder geschieden wird, in einigen Großstädten jede zweite, dann erfahren Kinder oft Konflikte, Zerrissenheit, Angst und keine Bejahung positiver Werte. Wichtig ist, dass nicht die Scheidung als solche entscheidend ist, sondern die Auseinandersetzungen, die der Scheidung vorausgehen.
Was geschieht:
Kinder geben sich oft selbst die Schuld, weil sie glauben, für die Auseinandersetzungen der Eltern mit verantwortlich zu sein;
Kinder geraten in Loyalitätskonflikte, wenn sie sich für den einen oder anderen Elternteil entscheiden müssen;
Kinder reagieren zunehmend depressiv, weil sie hin- und hergerissen werden;
Kinder sind verwirrt, was Werte wie Liebe, Ehe, Treue und Zuverlässigkeit angeht. Die Eltern haben viele Werte infrage gestellt.
Kanadische