Zurück. Fabian Vogt
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Auf diese Frage hatte ich gewartet. „Verena, kann ich dich einen Moment unter vier Augen sprechen? Ja? Bitte! Es dauert auch nicht lange.“
Max sah aus, als habe er etwas dagegen, aber er räusperte sich nur und verdrehte die Augen. Verena streifte ihre Jacke über und ging auf den Ausgang zu. Als ich die Türklinke in der Hand hielt, sah ich die fragenden Blicke ihrer Freundinnen, die uns in die Dunkelheit folgten.
Wir gingen schweigend auf den Adlerflychtplatz, auf dem ich einmal als Vierjähriger meiner Mutter davongelaufen war. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass das das erste Angsterlebnis ist, an das ich mich erinnern kann. Und jetzt war Verena bei mir. Wir setzten uns auf eine der Kinderwippen, die mit dünnem Frost überzogen dastanden und Dinosauriergerippen glichen.
Verena und ich. Es war verrückt. Plötzlich war ich 14 Jahre älter als sie, und sie wusste nicht, wie sehr ich sie geliebt hatte. Wir begannen zu wippen, begleitet von dem leisen Quietschen der Scharniere, das wie eine Fledermaus um uns durch die Bäume jagte. Ich hätte am liebsten gar nichts gesagt, aber sie stieg plötzlich vom Sitz und ließ mich unsanft auf den nur wenig dämpfenden Autoreifen knallen. „Also, was steckt hinter all diesen verrückten Dingen?“
Ich versuchte vergeblich, in der Dunkelheit ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Vorsichtig sagte ich: „Das meiste steht in meinem Brief. Ich möchte, dass du ihn morgen liest, ohne deine Freundinnen und ohne Max. Ich werde morgen Abend auch nicht zu eurem Treffen kommen. Aber ich bitte dich: Geh du hin. Triff dich mit Max. Sag ihm … was weiß ich … ich hätte deine beste Freundin ausgequetscht, dadurch wäre ich an all die Detailinformationen gekommen, und letztlich hätte ich dir eine Versicherung andrehen wollen. Wichtig ist, dass Max mich möglichst schnell vergisst und unter der Kategorie ‚Verrückter‘ abbucht. Tu mir den Gefallen und sprich mit ihm. Es ist für ihn, für dich und für mich von entscheidender Bedeutung.“
Verena war jetzt ernsthaft zornig: „Warum sollte ich das alles machen? Ich kenne ihn ja gar nicht!“
Meine Stimme hatte auf einmal diesen tiefen, eindrücklichen Klang, mit dem ich sie früher immer betört hatte: „Das steht in meinem Brief! Lies ihn, bitte, morgen. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen!“
Sie trat auf mich zu. „Und du? Wer bist du?“
„Wer weiß, vielleicht bin ich tatsächlich ein Prophet?“
Ich versuchte, die gedrückte Stimmung wegzulachen, aber es gelang mir nicht. Verena stand im Halbdunkel eines Baumes, der das Licht der Straßenlampen abhielt, und starrte mich an. Mit einem bohrenden Blick. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sanft flüsterte ich: „Weißt du, was der griechische Schriftsteller Lukian den Gott Amor einmal sagen lässt? ‚Wenn ich euch auf das Schöne aufmerksam mache, was tu ich daran so Unrechtes? Lasst ihr euch davon hinreißen, so ist das eure Sache; was gebt ihr mir die Schuld?‘ Vielleicht ist es das, was ich will: Ich möchte dich auf die Schönheit dieses Lebens aufmerksam machen.“
„Ach, du bist also Amor!“
„Nein, natürlich nicht! Obwohl, warum nicht? Ich möchte jedenfalls gerne einer sein, der Sehnsüchte erfüllt. Lass es auf einen Versuch ankommen.“
„Also, Amor, ich werde deinen Brief lesen, und vielleicht gehe ich auch morgen zu diesem Treffen, aber ich hoffe, dass ich bis dahin eine gute Erklärung für das alles habe.“
„Das hoffe ich auch“, sagte ich und verschwand in der Nacht.
1635 Ein älterer Page betrat das Atelier und erschrak, als er Van Dyck und mich in Decken gehüllt auf zwei Kisten sitzen sah. Der Künstler wollte ihn erst brüsk hinausschicken, dann besann er sich: „Robin, zieh deine Jacke aus.“
Der Page zögerte.
„Ich brauche sie für mein Bild. Na, mach schon! Deine Jacke wird in die Ewigkeit eingehen.“
Van Dyck nahm dem betreten dastehenden Pagen die Bekleidung ab, streifte sie mir über und schob mich hinter die Staffelei.
„Sei nicht böse, aber wenn ich bis zwölf Uhr mit deinem Bild fertig sein will, nein, fertig werden soll, dann muss ich noch ein bisschen arbeiten. Du kannst ja dabei weitererzählen. Genau, da hast du gestanden. Nimm bitte den Kopf nicht ganz so hoch, vorher war das Kinn tiefer. Ja, es muss ein unsicherer und trotzdem zielgerichteter Blick in die Vergangenheit sein. Dort kommt alles her. Dort scheint das Licht, das unsere Gegenwart erhellt. Du bist derjenige, der weiß, dass hinter dem Horizont des Vergangenen ein unendlicher Reichtum wartet, von dem wir möglichst viel in die Gegenwart retten sollten, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Ja, jetzt ist es so, wie ich es mir vorgestellt habe. Stell dich etwas breitbeiniger hin; wer die Vergangenheit kennt, der ist gut geerdet. Ja. Das linke Bein ein bisschen vor, als drängte es dich, wieder zurückzukehren in die leuchtende Historie. Genau, der ganze Schritt muss Hoffnung ausdrücken. Und zugleich hält dich die Gegenwart gefangen, denn du weißt ja, dass man nicht zurück kann. Keiner kann das.“
„Ich kann es!“
Van Dyck strich sich über die Nase: „Stimmt. Merkwürdig, mein Verstand hat das einfach ignoriert. Irgendwie wollen wir das, was wir nicht glauben können, auch nicht wahrhaben. So, wie du jetzt vor mir posierst, habe ich eben in dir wieder ein gewöhnliches Modell gesehen. Verzeih. Erzähl mir, was in diesem Brief stand, den du an deine ehemalige Mätresse geschrieben hattest.“
1985 „Ich musste in mehreren Geschäften nachfragen, bis ich die richtige Umschlagsorte gefunden hatte. Dann saß ich den ganzen nächsten Tag, es war wieder ein Dienstag, in der kalten Hütte und arbeitete an meinem Brief. Es war nicht leicht, in die Zukunft zu schreiben, aber es musste sein. Ich hatte das Schreiben in Verenas zitternden Händen gesehen, nun blieb mir keine andere Wahl, als es auch abzuschicken. Also verfasste ich einen Brief, den ich schon fertig geschrieben gesehen hatte. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was ich damit auslösen würde. Sonst hätte ich ihn nie geschrieben oder ihn direkt nach der Fertigstellung verbrannt. An diesem Morgen glühte ich vor Begeisterung über meine vermeintlich so cleveren Schachzüge, die mir, also meinem jüngeren Ich, eine Traumfrau bescheren würden.
Ich war so naiv.
Später verfasste ich übrigens noch einige andere Briefe. Sie enthielten ausschließlich gute Ratschläge an mich selbst. Doch jedes Mal, wenn ich sie noch einmal durchlas, kamen sie mir so besserwisserisch und unverständlich vor, dass ich sie nicht abschickte.
Überhaupt schäme ich mich im Rückblick über meine unbeholfene Dummheit in dieser Zeit. Ich ließ das verwirrende Dasein geschehen, ohne darin wirklich aktiv zu werden. Mein abendlicher Enthusiasmus in dem kleinen Restaurant und der Brief an Verena waren positive Ausrutscher, Kraftanstrengungen, wie sie mir nachher nicht mehr gelangen. Schließlich schien es viel einfacher, alle Ungereimtheiten dem Schicksal in die Schuhe zu schieben und sich beleidigt zurückzuziehen. Für Maximilian den jüngeren konnte ich mich kurzzeitig aufraffen, für mich selbst fand ich keine Kraft. Ich habe mich später oft gefragt, warum ich damals nicht in der Lage war, mein Leben in die Hand zu nehmen. Es gibt keine Erklärung. Vielleicht ist es wie bei einem Sterbefall. Der Hinterbliebene bleibt derselbe, der er vorher war, und doch lähmt ihn der Verlust für lange Zeit. Das Vakuum, das entsteht, saugt alle Energie, alle Pläne und alle Hoffnungen auf und lenkt die Gedanken so sehr zu dem Vergangenen, dass für die Zukunft kein Raum bleibt. Und wer keine Zukunft sieht, der will dort auch nicht hin. Der will nur zurück. Und weil er das nicht kann, gibt er auf. Bei mir kam zu dieser Lähmung bald darauf auch noch die Angst vor den Auswirkungen meiner anachronistischen Interventionen.