Zurück. Fabian Vogt

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Zurück - Fabian Vogt

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gequält ein gutes neues Jahr gewünscht und mich zum Flur durchgekämpft hatte, verlor ich völlig die Kontrolle über meinen Verstand. Normalerweise bin ich nicht leicht zu erschüttern, aber diesmal durchzog mich ein kalter Schauder, der nicht aufhören wollte. Mein Herz raste.

      Es hatte auch allen Grund dazu: Im Gang stand ich! Ich selbst! Der, den ich sonst nur im Spiegel erblickte. Ich sah mich in angeregtem Gespräch vor der Tür zum Badezimmer stehen, etwa dreieinhalb Meter von mir entfernt. Da lehnte ich an der Wand und plauderte mit einer hübschen Brünetten, die schon im Jahr zuvor auf der Party gewesen war. Ich glaube, sie hieß Julia, aber das war mir in diesem Augenblick völlig gleichgültig.

      Ich weiß nicht, ob irgendjemand verstehen kann, was da geschah: Ich sah mich als mein Gegenüber. Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete ich mir selbst. Und als ich in den großen Spiegel neben der Eingangstür blickte, stand ich tatsächlich zweimal da. Ich wollte schreien – und konnte nicht. Ab da weiß ich kaum noch, was geschah.

      Da sich mein anderes Ich in diesem Moment suchend umdrehte, ließ ich mich zwischen die Jacken und Mäntel an der Garderobe fallen und versuchte verzweifelt, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Was ist los? Was ist los? Was passiert hier? hämmerte es in mir, während ich flach und schnell atmete. Bevor ich auch nur eine irgendwie geartete Antwort zuließ, nahm ich völlig verstört meinen Mantel und rannte hinaus. Nach einigem Suchen fand ich an einem Taxistand einen einsam vom Widerschein der Raketen glitzernden Wagen und ließ mich völlig fassungslos auf die Rückbank gleiten.

      „Ein gesegnetes Jahr 1999“, sagte der Taxifahrer.

      Auf der Fahrt fiel mir ein, dass letztes Jahr, als Anna und ich die Feier verlassen wollten, meine Jacke verschwunden war und wir mit einigen Freunden eine Stunde lang danach gesucht hatten. Ich fand sie später zu Hause mit allen Papieren wieder, wurde stinksauer, und Anna beteuerte vergeblich, dass es sich dabei nicht um einen ihrer üblichen Scherze gehandelt habe.

      „Können Sie bitte das Radio anschalten?“, bat ich den Taxifahrer, als ich sah, dass es gerade ein Uhr war. Der Jingle lief schon: „Nachrichten. Es ist ein Uhr morgens. Wir wünschen allen Hörern ein frohes neues Jahr 1999.“

      „Danke, das reicht. Schalten Sie bitte wieder aus!“

      Der Taxifahrer brummte und drückte auf einen Knopf.

      „Was denken Sie über Oskar Lafontaine?“, fragte ich. Schließlich war der Politiker als Finanzminister im März 1999 zurückgetreten.

      Mein Fahrer schob seine dicke Mütze nach hinten, drehte sich kurz zu mir um, als wolle er an meinem Gesichtsausdruck erkennen, was er antworten könne, und murmelte dann: „Ich finde, die ersten hundert Tage sollte man einer neuen Regierung schon gönnen, dann kann man immer noch anfangen zu schimpfen.“

      Ich schwieg. Ich war noch nie einem Phänomen begegnet, das ich nicht erklären konnte. Zumindest keinem, das so nach einer Erklärung schrie. Ich war es gewohnt, in Büchern nach Antworten auf strukturierte Fragen zu suchen und aus kleinen Indizien historische Schlüsse zu ziehen. Aber ich war es nicht gewohnt, aus dem Jahr 2000 zurück in das Jahr 1999 versetzt zu werden.

      Ich weiß nicht, ob es die Müdigkeit, die Verzweiflung oder einfach völlige Ratlosigkeit war, jedenfalls wurde ich mit einem Mal ganz ruhig.

      Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und verwandelte mich in den korrekten Wissenschaftler, den Anna so hasste und der alle Probleme als logische Herausforderung betrachtet. Ich schalte dann meine Gefühle aus, atme tief durch und analysiere mich und die Umgebung so lange, bis ich eine rationale Erklärung finde. Ich weiß, dass das erbärmlich ist, aber es hat mir immer geholfen, wenn ich kurz vor der Verzweiflung stand.

      Zu Hause angekommen, holte ich einen alten Koffer vom Speicher, den ich nicht vermissen würde, und packte einige Kleider zusammen, die Anna ohnehin nicht gefielen und die ich deswegen normalerweise nie trug. Ich ließ mir noch einmal von unserem Fernseher und vom Computer das Datum bestätigen, stellte schon gar nicht mehr überrascht fest, dass die von Thomas geerbten Bücher nicht mehr, beziehungsweise noch nicht in meinem Regal ruhten, fand im Küchenregal auch tatsächlich den kaputten Toaster wieder, den ich im Sommer 1999 eigenhändig zerlegt und entsorgt hatte, nahm den Schlüssel zur Gartenhütte meiner Eltern und einen Ersatz-Hausschlüssel aus dem Schlüsselkasten und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

      So fing es an.

      1635 Van Dyck schob mir einen Becher Wein zu, den er auf eine Holzkiste gestellt hatte, die zwischen uns stand, und forderte mich wortlos auf, daraus zu trinken.

      „Du behauptest also, du wärst im Jahr 2000 zurück ins Jahr 1999 gesprungen?“

      „Nicht nur das. Seitdem wache ich jeden Morgen ein Jahr früher auf. Ich wollte es anfangs selbst nicht glauben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ehe ich wirklich realisiert hatte, was passiert war, verging eine ganze Woche, in der ich jeden Tag hoffte, dass jemand von der, Versteckten Kamera‘, ein überdrehter Wissenschaftler oder ein Psychologe zu mir in die Gartenhütte käme, um mir zu sagen, dass das alles nur ein Spiel, ein Experiment oder eine Täuschung gewesen sei. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.

      Als das Unbegreifliche zur Gewissheit wurde, stand auf den Zeitungen am nahe gelegenen Kiosk in der Datumsspalte bereits 1993. Donnerstag, der 7. Januar 1993. Die Tage liefen weiter, aber die Jahreszahlen sprangen zurück.“

      Es fällt mir schwer, dieses Gespräch aufzuschreiben, denn ich werde schon wieder von diesem bedrückenden Gefühl überwältigt, das meine Stunden im Atelier bestimmt hat; eine seltsame Mischung aus Hilflosigkeit, Stolz und Wut. Ich soll etwas erklären, was unerklärlich scheint. Welch eine Aufgabe. Niemand hat jemals mein Schicksal geteilt, und darum ringe ich voller Ehrgeiz mit den Worten und erkenne schnell, dass sie mich wahrscheinlich zu Boden werfen werden. Ich bin nicht einmal sicher, ob mich Van Dyck verstanden hat; immerhin lassen seine Rückfragen darauf schließen; wenn ich denn sein von einem starken niederdeutschen Akzent geprägtes Altenglisch richtig interpretiere. Ich könnte seine Erwiderungen natürlich im Original wiedergeben, aber wer weiß, ob ich sie dann in einigen Jahren noch begreifen werde. Schließlich ist es ungewiss, wie lange meine Reise dauern wird.

      Was soll ich also machen? Ich kann nur von dem schreiben, was ich selbst begreife. Ich denke, ich werde alle Eindrücke so wiedergeben, wie mein Verstand sie empfangen hat, der ja auch jede Botschaft übersetzt, damit ich sie einordnen kann.

      Mein Van Dyck spricht meine Sprache, und ich kann hier ohnehin nur das festhalten, was ich gehört und begriffen habe. Außerdem bin ich es, der das Rätsel lösen will, nein, lösen muss. Das Rätsel Maximilian Temper. Wer könnte mir verbieten, meine Sicht der Dinge zu berichten? Sollte ein anderer irgendwann einmal diese Zeilen lesen, dann wird er die Welt aus meinen Augen sehen und mit meinen Ohren hören. Er wird dann nicht nur meine Reise, sondern auch mich kennen lernen.

      Eines jedenfalls konnte ich die ganze Zeit spüren: Van Dyck brannte darauf, zu hören, wie meine Geschichte weiterging.

      1993 Jeden Morgen war ich erwartungsvoll aus der winterlich leeren Kleingartensiedlung in das nächste Einkaufszentrum gerannt. Und jedes Mal war ich fest davon überzeugt gewesen, dass es sich bei all dem nur um ein Missverständnis handeln konnte, einen irren Traum, vielleicht durch eine Droge in einem der Drinks auf der Party verursacht. Jeden Morgen vertraute ich darauf, dass sich nun alles aufklären würde. Doch schon, wenn ich mich dem Supermarkt genähert hatte, hatten mich zu viele Kleinigkeiten darauf hingewiesen, dass ich noch weiter in die Vergangenheit vorgedrungen war: Die dichten Büsche waren kleiner geworden, die Markisen hatten heller geleuchtet und die Verkäuferinnen frischer gewirkt. Jeden Tag waren weniger Menschen mit Handys unterwegs und die Autos wurden immer eckiger.

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