Zurück. Fabian Vogt

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nur eine Bedingung: Ich will euch dabei eine Geschichte erzählen dürfen.“

      Der Maler hob die Augenbrauen: „Normalerweise bevorzuge ich zwar Musik beim Arbeiten, aber wenn du beim Erzählen einigermaßen ruhig stehen bleiben kannst, soll es mir recht sein.“

      So verharrte ich, Stunde um Stunde, und blickte zurück in die Zeit, in meine Zeit, in die Jahrhunderte, die der Welt noch bevorstanden. Und ich ließ all das hervorströmen, was mir seit nunmehr 365 erlebten Jahren den Verstand rauben wollte, meine ganze Angst, meine Ruhelosigkeit und meine Verzweiflung.

      Irgendwann hörte Van Dyck auf zu arbeiten und ließ uns etwas zu essen bringen. Er, der große Hofkünstler, das Wunderkind, das schon als junger Mann oberster Assistent von Peter Paul Rubens war, lauschte einem ratlosen Bauarbeiter, der durch widrige Umstände in sein Atelier gekommen war. Ich hatte ihm geholfen, er half mir. Und es tat unendlich gut, zu schimpfen, zu wüten, zu schreien, zu weinen und diesen Sack voller Fragen, der sich während meines selbst verordneten Schweigens in meiner Seele angefüllt hatte, zu öffnen.

      Anfangs war der Drang, Worte zu finden, so groß, dass meine Erlebnisse wohl sehr wirr geklungen haben müssen. Ich holte Erinnerungen und Gefühle aus 365 Jahren hervor und warf sie meinem ersten Zuhörer hin.

      Van Dyck ließ mich gewähren, zwei, vielleicht drei Stunden lang. Dann unterbrach mich der Künstler das erste Mal, sehr vorsichtig, ja fast zärtlich: „Wie fing alles an?“

      1999 Ich kann mich noch an die Farbe des Kleides von Anna erinnern. Ein dunkles Blau mit eingesponnenen Silberfäden. Sie hatte es schon im vergangenen Jahr an Silvester getragen, weil ich es liebte, ihren nackten Rücken zu betrachten. Ich traf sie vor dem Haus, als sie gerade aus ihrem Polo stieg. (Van Dyck stutzte, also sagte ich: „Eine Kutsche ohne Pferde“.) Ich hatte nicht gewusst, dass sie auch zu dieser Party („Hofball“) kommen würde, und fühlte mich unbehaglich. Aber wenn man sich nach fünf Jahren trennt, hat man nun einmal noch einige Zeit den gleichen Freundeskreis.

      Anna war unsere Beziehung nach einiger Zeit zu eng geworden, meine Lust am Heiraten, meine enge Welt der Altphilologie („Magister der alten Sprachen“), mein Eingebundensein in die „existenzverneinende“ Welt der Universität, wie sie es immer nannte, das Dahinvegetieren mit einer halben Assistentenstelle („Dasein als Adlatus“), mein zusätzliches Jobben auf dem Bau („Arbeit im Baugewerbe“), meine fruchtlose Forschungsarbeit über den „Humor als Mittel der Zeitkritik. Sprachmuster in den Satiren Lukians“, in der ich nachweisen wollte, dass der feixende Dichter des zweiten Jahrhunderts bewusst die erzählerischen Traditionen seiner Epoche aufgenommen hatte, um durch diese Verfremdungen die damaligen Stil- und Kunstformen als Farce zu entlarven.

      Anna fand, dieses Thema sei reine Zeitverschwendung, Lebensverschwendung. Immer wieder fragte sie gehässig: „Was wird sich in der Welt ändern, wenn dein Buch erscheint? Gibt es nur einen Menschen, der dadurch ein bisschen glücklicher wird?“

      „Ich!“, sagte ich dann beleidigt, aber das war zu einer Zeit, als wir schon anfingen, unsere Argumente zu wiederholen. Ich wusste, was ihr an mir missfiel, sie wusste, was mir an ihr missfiel, und keiner von uns dachte daran, etwas Grundlegendes zu ändern.

      Nein, das stimmt nicht. Wir litten beide unter den andauernden Streitereien, die sich immer an Kleinigkeiten aufhingen und dann mit Tränen endeten, aber trotzdem machte keiner den ersten Schritt zu einer Verbesserung der Situation. Denn es gab immer wieder wundervolle Momente, in denen wir das Gleiche dachten und fühlten. Aber sie wurden seltener. Wäre es nach mir gegangen, hätte sich wahrscheinlich nie etwas geändert, doch dann fand Anna, es sei einfach Zeit, die Beziehung zu beenden, bevor ich sie mit in mein „selbstgeschaufeltes Akademikergrab“ zöge. Wäre unsere Trennung zu dieser Zeit nicht erst drei Monate her gewesen, drei Monate voller Selbstmitleid und Zerknirschung, dann hätte ich sicherlich anders reagiert.

      „Was machst du denn hier?“, fuhr ich sie unfreundlicher an, als ich wollte. Anna wühlte noch einen Augenblick im Handschuhfach und schlug dann die Tür fester zu, als nötig gewesen wäre.

      „Karsten gehört zu meinen Freunden, falls du das vergessen hast“, blaffte sie zurück. Damit hatte sie zweifelsohne Recht. „Außerdem kann ich den Jahrtausendwechsel feiern, mit wem ich will. Schließlich habe ich die letzten vier Jahre auch in diesem Kreis gefeiert.“

      „Schon gut, entschuldige. War nicht so gemeint. Ich … äh … wusstest du, dass ich auch eingeladen bin?“

      Sie hatte sich wieder gefangen und sah mich herausfordernd an: „Ja, ich dachte, wir wollten Freunde bleiben, da werden wir doch ohne Streit auf diese Party gehen können. Letztes Jahr ging es ja auch.“

      Sehr lustig, dachte ich, da waren wir ja auch noch zusammen!

      Mir fiel nichts mehr ein, obwohl ich seit unserer Trennung in meiner Fantasie sicherlich hundert Gespräche mit ihr geführt hatte, in denen ich ihr endlich all das sagen konnte, wofür mir in ihrer Gegenwart die Worte fehlten. Sie blickte ein bisschen mitleidig auf meinen alten Anzug, rückte den Träger ihres Kleides zurecht und ging vor mir ins Haus.

      Ich war sehr melancholisch an diesem Abend. Vor allem, weil mein Blick immer Anna suchte. Für mich schien sie unübersehbar. Anna lachend mit einem Glas Sekt in der Hand. Anna mit einer Rose im Haar, die ihr ein angetrunkener Kollege dorthin gesteckt hatte. Dabei wusste ich genau, dass sie sich nichts aus Blumen machte. Sie war eines Tages damit herausgerückt, nachdem ich sie wochenlang mit Rosen überschüttet hatte, die immer wortlos in eine Ecke gestellt wurden. Anna mit attraktiven Männern, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Anna mit diesem glücklichen Lachen, das wie eine sanfte Welle über ihr Gesicht floss und alle Ängste und Trübungen mit sich nahm, dieses Lachen, von dem ich immer geglaubt hatte, es sei nur für mich bestimmt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie und ihr jeweiliges Gegenüber die Einzigen waren, die diesen Abend genossen.

      Karsten zog mich nach dem Essen in die Küche, hielt mir einen Teller mit Käse hin und setzte eine aufmunternde Miene auf: „Sie macht das, weil sie traurig ist.“

      „Na, so sieht sie aber nicht aus! Sie scheint sich prächtig zu amüsieren.“

      Er musterte mich, als müsse er überlegen, was er jetzt am besten sagen könnte. Schließlich meinte er optimistisch: „Ich bin sicher, dass sie ihren Entschluss bereut.“

      „Da habe ich aber was ganz anderes gehört!“

      „Du meinst die Geschichte mit Frank? Das ist doch schon längst wieder vorbei. Sie war traurig, und er hat sie getröstet. Was glaubst du, wie viele Beziehungen auf diesem Wege entstehen? Aber so blöd ist Anna nicht. Die hat schnell genug gemerkt, dass man nicht so einfach eine neue Beziehung anfangen kann. Weißt du übrigens, was das Verrückte an neuen Beziehungen ist?“

      Ich wollte in diesem Augenblick weder weise Ratschläge noch Unterhaltung, fand es aber unhöflich, nicht zu antworten. Also sagte ich mürrisch: „Nein!“

      Karsten lachte: „50 Prozent davon sind auf jeden Fall alt, denn du bist wieder dabei! Klever, gell? Habe ich neulich irgendwo gehört. Aber mal ganz im Ernst. Wenn du Anna noch liebst, dann solltest du dir ein bisschen mehr Mühe geben!“

      „Und was heißt das konkret, Dr. Sommer?“

      Er senkte verschwörerisch die Stimme, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken: „Was meinst du, warum sie dein Lieblingskleid anhat? Geh ran, sie wartet doch nur darauf.“

      „Na, ich weiß nicht!“

      Ich war an diesem Abend nicht zum Flirten aufgelegt. Alles wirkte trübe und

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