Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa
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Chris Inken Soppa
KALYPSOS LIEBE ZUM KALTEN SEERHEIN
Roman
Literaturverlag Josefine Rosalski, Berlin 2015
INHALT
SEERHEIN
Fluss-Seeschwalben stürzen sich auf die Wellen. Ein Vater in Wanderschuhen, grauer Hose und kariertem Hemd hält seinen kleinen Sohn Richtung Himmel und ruft, schau mal, Harry, so viele Vögel! Das Kind reagiert mit piepsendem Lachen und greift ins Leere. Schmale, weiße Flügel kämpfen um Auftrieb, zierliche Körper stechen im freien Fall nach unten.
Niks tut es den Vögeln nach und wirft sich Kopf voran ins Wasser. Die Kälte hüllt sie von allen Seiten ein, blau-grünes Sonnenlicht und Luftblasen machen ihr klar, wie abrupt die Tiere hier unten gebremst werden. Sie entdeckt keinen einzigen Fisch, obwohl sie die Augen weit offen hält. Nur schwimmende Ahornblätter, deren Schatten flüchtige Punkte auf dem klaren Kiesgrund ergeben. Niks schwimmt langsam und geduldig. Die Fluss-Seeschwalben sind viel schneller, doch auch sie beweisen Geduld. Ein erfolgloser Sturz nach dem anderen, erneutes Gen-Himmel-Steigen, Flügelanlegen, Fallenlassen.
Die Oktoberkälte zwingt Niks, sich trockenzureiben, bis ihre Haut heiß und rot wird. Beide Arme wirbeln im Kreis, Blut und Wärme müssen zurück in die Fingerspitzen. Niks legt sich das Handtuch über die Schultern, drückt Wasser aus ihren Haaren. Ein gelbes Ahornblatt ist mitgekommen und klebt an ihrem Oberschenkel. Sie nimmt den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger, löst das Blatt, lässt es zu Boden trudeln. Über dem Wasser fallen immer noch Vögel vom Himmel, machen letzte Beute vor ihrem langen Flug nach Süden.
Die Kälte ist ein sicheres Mittel gegen die alltägliche Trübsal des Alterns. Wenn ein Körper verfällt, wird er traurig. Dumpf drückende Gliedmaßen, die morgens nicht aus dem Bett kommen wollen. Ein Mund, der nicht sprechen möchte, weil er trocken ist und klebt. Unklare Schmerzen, die auftauchen und wieder spurlos verschwinden, um sich an anderer Stelle festzusetzen.
Noch vor knapp acht Monaten saß Niks im regionalen Nachrichtenstudio und las stündlich Meldungen in den Äther. In kurzen und längeren Berichten kam die Welt zu ihr auf den Bildschirm. Niks wählte die Texte aus, schrieb sie um und schickte sie mündlich weiter, ohne ernsthaft zu glauben, dass ihre Worte nach draußen gelangten. Durch die Glasscheibe ihrer schallgepolsterten Zelle sah sie nur die Techniker. Es waren die Techniker, denen sie vorlas. Nette Jungs, höflich, aufmerksam, immer ein wenig altmodisch wirkend, mit ihren langen, zum Zopf zurückgebundenen Haaren, ihren Streberbrillen und karierten Hemden. Fast alle spielten in einer Band, wenn sie freihatten. Oder sie produzierten elektronische Musik auf ihren Rechnern, Stücke mit hoher Frequenz und gelegentlichem Flimmern.
Zum Schluss hatte Niks selbst mit der Weitsichtbrille Mühe, die kleinen Zeichen auf dem Monitor zu verstehen. Manchmal sehnte sie sich zurück in die Zeit, als Meldungen noch per Telex und Tonband bei ihr eintrafen, Worte und Stimmen noch gegenständlich waren. Man konnte Satzteile abschneiden, neu zusammenkleben und in den Müll werfen, wo sie als braune Magnetbänder so lange offen liegen blieben, bis die Putzfrau sie holte. Manchmal ließ Niks ein Stück Band in den Mülleimer rutschen und stellte später fest, dass sie es doch noch brauchte. Ein achtlos weggeworfener Tonschnipsel verbarg sich perfekt zwischen hundert stummen, teilnahmslosen, nahezu identischen anderen. Man musste den Mülleimer auf dem Studioboden ausleeren, alle Schnipsel aus dem Haufen ziehen, mit der Hand entwirren und sie dann durchs Tonbandgerät laufen lassen. Man stieß auf Versprecher, Knacklaute, Atmen, Schmatzen oder Flüche. War der entscheidende Schnipsel schließlich gefunden, hatte man ihn sicher. Kein Zentralcomputer konnte ihn mehr löschen.
PARADIES
Niks wickelt sich in ihr Handtuch, steigt in Socken und Schuhe und überlegt, in welcher