Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein. Chris Inken Soppa
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Irgendwann stand Karen dann auf, packte Essensreste, Schnapsflasche, Gläser und Geschirr wortlos in ihren Rucksack und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Am nächsten Tag kam sie mit einem Leistenriss ins Krankenhaus. Eine Woche später gab Nadine ihr Volontariat vorzeitig auf, Niks hat nie erfahren, warum. Und Karen übernahm die freigewordene Stelle.
Am Mittwochnachmittag also will sie ihren Sohn zu Niks bringen.
WOLLMATINGEN
Am Abend veranstaltet der Naturschutzbund sein Herbstgrillfest. Die Fluss-Seeschwalben haben die installierten Brutflöße dieses Jahr gut angenommen, das feiert man mit einem Freudenfeuer, Stockbrot und Biowürstchen. Im Tipi gibt es Zwiebelkuchen und Apfelmost. Die Sonne verkriecht sich hinter roten Wolken, die ersten Fackeln brennen bereits, und Niks hüllt sich fester in ihren alten Wollponcho, der den Rauchgeruch früherer Feste in sich trägt. Alle um sie herum sind jünger als sie. Anfangs fühlte Niks sich fremd zwischen den engagierten Ehepaaren. Deren lebhafte Erzählungen von Sitzblockaden in Gorleben, am Frankfurter Flughafen oder im Wendland erinnerten Niks vor allem an die Glaszelle, in der sie Tag für Tag saß, um das Geschehene in trockene, verständliche Sätze zu packen.
Neben ihr sitzt Julia, eine schmale Ornithologin mit fünf Kindern und einem Mann, der sein halbes Leben auf der Rainbow Warrior verbracht hat. Heute kauert er vor dem Feuer und hält fünf Stockbrote in die Flammen. Julias Blick ist liebevoll-nachsichtig. Sie zieht eine Tupperdose aus ihrem Rucksack und bietet ihren zwei jüngsten Kindern Apfelstückchen daraus an. Nächstes Jahr könnten wir noch mehr Brutflöße bauen, sagt sie zu Niks. Herrmann wird das beantragen.
Als hätte Herrmann sie gehört, nimmt er die fünf Stöcke in die rechte Hand, dreht den Kopf und winkt mit der Linken. Dann wendet er sich wieder dem Feuer zu.
Ich hoffe, dass er dieses Jahr daheim bleibt, nickt Julia. Max ist in der vierten Klasse und wird sie nicht so leicht schaffen wie die zwei anderen. Es ist eine schwierige Zeit für ihn und für uns, und Herrmann muss mithelfen. Er hat eine Vollzeitstelle bei Greenpeace angeboten bekommen. Das Meiste wäre einfacher Redaktionskram, den er von daheim aus erledigen kann. Höchstens ein Mal in der Woche würde er nach Stuttgart fahren. Er wollte unbedingt fünf Kinder, also soll er sich auch Zeit für sie nehmen. Julias hageres Gesicht ist alltäglich, ein Gesicht, das sich in sprechende Quer- und Längsfalten legen lässt.
Klingt prima. Niks nimmt Herrmann zwei Stockbrote ab und reicht sie weiter. Julias jüngste Kinder Noah und Lena tauchen unter der Bierbank hervor und krähen lautstark nach Futter. Ungestüm schiebt sich Lena ein Brot in den Mund, verbrennt sich die Lippen. Das Brot fällt zu Boden.
Ruhig, Lena, ruhig. Julia hält ihre heulende Tochter mit der linken Hand auf der Sitzbank und kramt mit der Rechten in ihrer Handtasche aus Lastwagenplanen, um ein winziges, braunes Fläschchen hervorzuholen. Sie schraubt es auf, ohne die Linke zu Hilfe zu nehmen, und träufelt Lena ein paar Tropfen auf die verbrannte Stelle. Das Kind brüllt. Der Bruder steht dicht daneben und nagt gedankenvoll an seinem Brot. Schmeckt’s, fragt Niks, doch Noah hat kein Interesse an ihr. Die Aufmerksamkeit, die seine Schwester erregt, scheint ihn zu ärgern. Lena tut der ganze Mund weh, und ihre Mutter redet beschwichtigend auf sie ein. Greenpeace-Herrmann kauert mit den verbliebenen Stockbroten vor dem Feuer, umringt von seinen drei Ältesten. Niks muss an ein Wolfsrudel denken, hochkonzentriert und gleichzeitig halb wahnsinnig vor Hunger. Doch als Herrmann vorsichtig über die Brote bläst und sie seinen Kindern überreicht, nehmen sie die Stöcke behutsam entgegen. Nacheinander fragen sie ihn, ob er auch mal beißen will, und jedes Mal nickt er und knabbert mit geschürzten Lippen ein kleines Stückchen ab. Dann essen die Kinder. Herrmann sieht ihnen zu. Im warmen Feuerschein wirken ihre Gesichter kupfern und schattig.
Wie wär’s mal mit Glühmost?
Niks nimmt den angebotenen Becher dankbar entgegen; die Herbstkälte zieht ihr in die Finger und lässt sie taub werden, doch Julia schüttelt den Kopf. Nicht für mich.
Alex, der Zivi, hält sein Glühmosttablett hoch und erklärt Julia, dass es auch alkoholfreien Kinderpunsch gebe. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf das fackelbeleuchtete Tipi. Dort drin haben sie einen Riesentopf voll.
Niks trinkt ein paar Schlucke Most und schlägt Noah und der tränenverschmierten Lena vor, für Mama Punsch zu holen. Sie steht auf, nimmt die klebrigen Pfoten der beiden Kinder links und rechts in ihre Hände, steuert auf das Tipi zu. An Fasching bin ich auch Indianer. Lena tapst vorsichtig durch den Rindenmulch vor dem Zelteingang.
Du bist gar kein richtiger Indianer. Noah stößt sie in die Seite. Indianer heulen nie.
Gar nicht. Die Kinder weinen auch manchmal. Die Indianer haben doch auch Kinder, oder? Lena sieht bittend zu Niks hoch. Klar, sagt Niks. Jedes Kind weint mal. Und Erwachsene auch.
Aber Mama weint nie. Lena geht durch den Zelteingang und bleibt stehen, überrascht von der Wärme und dem strahlenden Licht der Glühlampen, die von der Decke baumeln. Die schimpft bloß immer. Noah trampelt Lena unsanft in die Hacken. Geistesabwesend tritt Lena zurück und trifft Niks am Schienbein.
Seid doch vorsichtig. Niks legt Lena die Hand in den Nacken und schiebt sie weiter.
Hinter der Theke steht eine junge Frau in Haremshose und Wolljacke, die in einem großen, dampfenden Kessel rührt. Sie lächelt freundlich auffordernd. Hallo Niks, sagt sie. Hast du deine Enkel dabei? Das ist ja nett! Niks schüttelt den Kopf, während Lena und Noah lautstark protestieren. Die sind von Julia. Wir wollen drei Mal Kinderpunsch, nicht wahr?
Die junge Frau schöpft Punsch in drei Tonbecher und stellt sie auf ein Tablett. Niks bezahlt. Noah versucht, das Tablett mit beiden Händen anzuheben, dann verlässt ihn der Mut, und er setzt es wieder ab.
Ich trage es schon, sagt Niks beruhigend. Aber ihr müsst mir die Zeltklappe aufhalten. Danke schön.
Die junge Frau winkt ihnen mit dem Stiel ihres Schöpflöffels hinterher. Niks nimmt das Tablett, lässt sich von den Kindern aus dem Zelt lotsen und ist verwirrt von der Dunkelheit draußen. Das Feuer brennt noch, aber sein Schein dringt nur trübe in die Gesichter der im Kreis sitzenden Menschen. Niks blinzelt. Ihre Augen brauchen so lange, sich an Helligkeitsunterschiede zu gewöhnen. Lena zerrt ungeduldig an einem Zipfel ihres Ponchos, und Niks lässt sich mitziehen, unsicher, halb blind, immer darauf bedacht, das Tablett in der Waage zu halten. Als sie wieder sehen kann, merkt sie, dass sie Tränen in den Augen hat.
PARADIES
Grünflächen machen eine Menge Lärm. Um sieben Uhr morgens rücken Laubbläser an, Äste werden gekappt und die Rasenmäher verabschieden sich röhrend in den Winter. Niks fragt sich, warum man die gefallenen Blätter nicht einfach lassen kann, wo sie sind. Ein durchschnittlicher PKW-Motor bringt es im Wohngebiet vielleicht auf sechzig Dezibel. So ein Laubbläser dröhnt gut und gern das Doppelte. Die Männer in Orange unten auf der Straße halten ihre Schläuche in den Händen, tragen Gehörschutz und tun so, als ginge sie das alles gar nichts an. Sie sind beauftragt, welke Blätter vor sich herzutreiben.
Niks steht am offenen Schlafzimmerfenster. Sie würde am liebsten etwas werfen. Stattdessen geht sie nach unten, tritt auf einen der orangefarbenen Männer zu. Ein Außerirdischer. Er hat eine bedeutende Nase, lächelt sie an, schiebt sich den Gehörschutz in den Nacken und stellt sogar den Laubbläser ab.
Die Kastanien, sagt er ernst. Sind von Miniermotten befallen. Wenn wir das Laub nicht wegmachen, nisten die sich im Winter